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Zwischen den Stühlen gleich links

Ein fortschrittliches Bündnis muss sich jenseits gewohnter Konfliktlinien positionieren

Ist der Platz zwischen den Stühlen immer schlecht?

Zwischen den Stühlen zu sitzen gilt allgemein als unangenehm. Es bedeutet, „in einer verzwickten Lage (zu) sein, aus der es keinen (idealen) Ausweg zu geben scheint“, so steht es im Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache. In dem ISM-Thesenpapier, mit dem die Debatte in diesem Forum angestoßen wurde, ist von einem linken Bündnis die Rede, das „selbst für demokratische Konservative und klassische Liberale anschlussfähig ist“. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob der eigentlich unbeliebte Platz zwischen den Stühlen, zwischen bestimmten Stühlen jedenfalls, nicht am Ende der richtige für ein solches Bündnis sein könnte. Am besten in einer Variante, die als Synonym für die verbreitete Redewendung gilt: Zwischen den Stühlen nicht zu sitzen, sondern zu stehen, die Füße fest auf dem Boden.

Wer im Internet nach dem Platz zwischen den Stühlen sucht, stößt hier und da tatsächlich auf eine positive Wendung. Zum Beispiel in diesem schönen Aphorismus von Moritz Heimann: „Zwischen den Stühlen zu sitzen, ist in Wahrheit der anständigste Platz, den es gibt.“ Allerdings: Der Schriftsteller (1868-1925), im Hauptberuf Lektor bei S. Fischer, wollte sein Bonmot sicher nicht als Aufruf zu einer Haltung der Unentschiedenheit oder gar einer opportunistischen politischen Mittigkeit interpretiert wissen, wie wir sie auch hundert Jahre nach seinem Tod in großen Teilen des Parteienspektrums beobachten müssen. Wer Heimann folgt und nach dem anständigen Platz zwischen den Stühlen sucht, darf sich vielmehr an einen anderen seiner Aphorismen halten: „Die Wahrheit liegt in der Tat zwischen zwei Extremen, aber nicht in der Mitte.“

Die Stühle, von denen im Folgenden die Rede ist, stehen in Debattenräumen aller Art, auch in mehr oder weniger linken. Sie möblieren die unterschiedlichsten Diskussionen: über Krieg und Frieden, über Klasse und Identität, über Klimaschutz und Armut, über Regieren und Opponieren, über Parlament und Straße. Sie haben allerdings einen Nachteil: Sie sind im Boden fundamentaler Denkgewohnheiten so fest verschraubt, dass festsitzt, wer einmal auf ihnen Platz genommen hat. Dem steht hier die Frage gegenüber, ob und wie sich in diesen Themenbereichen jenseits festgeschraubter Dogmen Hinweise auf gemeinsame Kriterien für linke Positionsbestimmungen finden lassen.

Kriterien für einen politischen Standort finden

Es geht also nicht darum, mehr oder weniger orientierungslos oder zeitgeistgetrieben zwischen den Stühlen hin und her zu irren. Sondern darum, Kriterien für einen politischen Standort zu finden, von dem aus sich die aktuelle Entwicklung hin zu Autoritarismus, Nationalismus und sozialen Ausschlüssen begreifen und bekämpfen lässt. Und es wird sich zeigen, dass diese Kriterien eigentlich politische Selbstverständlichkeiten sein müssten, auf die sich ein breites progressives Bündnis zu stützen hätte.

Am ehesten lässt sich das vielleicht ausgerechnet am komplexen Thema „Krieg und Frieden“ zeigen, wenn auch hier in der gebotenen Verkürzung. Wer in den sehr empfehlenswerten ISM-„Transit Talk“ von Valentin Ihßen mit Anna Jikhareva hineinhört, stößt mehrfach auf die Frage nach den „alten Gewissheiten“ der Linken. Das vermeintliche Dilemma, das sich mit Wladimir Putins völkerrechtswidrigem Angriff auf die Ukraine verbindet, fasst die in Russland geborene und in der Schweiz arbeitende Journalistin höchst anschaulich zusammen. Auch sie, sagt Jikhareva, teile nach wie vor die linke Ablehnung von Militarismus, Aufrüstung und Krieg. Und doch stelle sich die Frage, „was Antimilitarismus konkret bedeutet“, wenn eigene Freunde sich fragen müssen, ob sie gegen den russischen Angriffskrieg „kämpfen gehen“ sollen. Dann heiße Antimilitarismus „vielleicht auch, dass man seine Familie, seine Freunde verteidigt gegen einen Aggressor“.

Womit klar wäre, dass „Linkssein“ nicht einfach darin bestehen kann, es sich auf dem Stuhl eines banalen Alle-Waffen-sind-böse-Pazifismus bequem zu machen. Und auch der Platz, der die russische Aggression platt gegen aggressive Akte der Nato abgewogen und damit relativiert, wird dem Dilemma eines prinzipiell antimilitaristischen Blicks auf das Geschehen natürlich nicht gerecht. Das gilt allerdings auch für jene andere Ecke im Diskursraum, in der jede Abwägung, etwa über die Sinnhaftigkeit bestimmter Waffenlieferungen, schon als Kotau vor dem Aggressor diffamiert wird.

Zwischen diesen Stühlen wäre also der Raum für einen linken Standpunkt zu finden. Wo dieser liegt, dafür hat Anna Jikhareva mit ihrem Satz von der „antimilitaristischen“ Verteidigung gegen einen Aggressor den entscheidenden Hinweis gegeben: Es ist der Standpunkt des Völkerrechts, allgemeiner: des Rechts.

Wer ihn einnimmt, wird nicht zu einfachen und ein für alle Mal gültigen Antworten kommen, wenn es um die Haltung zu konkreten Anlässen wie die Lieferung eines bestimmten Waffentyps geht. Sehr wohl aber zu Kriterien, nach denen diese beurteilt werden können. Sie wären dann nicht nach simplen Mustern wie „Waffen ja oder nein“ zu befragen, sondern: Ist ihr Einsatz vom Völkerrecht gedeckt? Andererseits: Trägt die konkrete Lieferung womöglich zu einer Eskalation bei? Wird ein lieferndes Land sogar zur Kriegspartei, woraus ein noch wesentlich größerer Krieg zwischen Russland und der Nato folgen könnte?

Wie könnte die Abwägung aussehen?

Was das Völkerrecht betrifft, sollte kein Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Waffenlieferungen an das angegriffene Land bestehen. Es sind gerade „pazifistische“, also den Krieg prinzipiell ächtende Normen, die diese Unterstützung rechtfertigen (so hat es etwa der Bonner Völkerrechtler Stefan Talmon hier im Verfassungsblog nachvollziehbar beschrieben). Darauf können sich beispielsweise die Grünen bei ihren stetigen Forderungen nach mehr Waffen für die Ukraine berufen. Auf der anderen Seite haben diejenigen recht (etwa in der Linkspartei und Teilen der SPD), die aus einer anderen, nicht weniger „pazifistischen“ Perspektive vor einer rein militärischen Betrachtung warnen und auf einer Abwägung bestehen, welche die Eskalationsrisiken und die Gefahr, dass künftige Verhandlungen erschwert werden könnten, mit einbezieht.

Es geht hier wohlgemerkt nicht darum, eine linke Position zu bestimmten Entscheidungen und Entwicklungen in diesem Krieg zu benennen oder Fragen wie „Taurus – ja oder nein“ zu beantworten. Es geht darum, den Raum zwischen den Stühlen zu beschreiben, in dem sich Linke guten Gewissens bewegen können, und das ist, wie gesagt, der Raum des Rechts. Und wäre das nicht ein Weg zur „Anschlussfähigkeit“ in breiten Teilen der Gesellschaft: das Dilemma zwischen Antimilitarismus und dem Recht auf Verteidigung deutlich zu beschreiben und das Völkerrecht als entscheidendes Bewertungskriterium immer wieder laut zu benennen?

Die gesellschaftliche Linke säße damit weder auf dem Stuhl der Grünen, die jeden Versuch, dem Recht auf Verteidigung einschränkende Kriterien gegenüberzustellen, unter den Verdacht der Verharmlosung des Aggressors stellen. Sie säße aber auch nicht auf dem Stuhl einer Linkspartei, die sich mit der vagen Absage an „immer mehr Waffen“ aus der Frage stiehlt, ob und wie viele Waffen denn umgekehrt zu befürworten wären. Eine solche Linke stünde womöglich mehr in der Mitte einer zweifelnden und abwägenden Gesellschaft, als sie sich das bisher vorstellen kann.

Ähnliches lässt sich über die Lage in Israel und den Krieg in Gaza sagen. Wie kann es sein, dass sich in einer Partei wie der Linken das Verhältnis zwischen dem Kampf gegen Antisemitismus und der Verteidigung der Menschenrechte im Gazastreifen in zwei streitenden innerparteilichen Fraktionen abbildet? Es müsste für Linke eigentlich ein Leichtes sein, zu einer gemeinsamen Aussage zu kommen: Das Menschenrecht ist nicht teilbar, schon gar nicht für die antifaschistische Linke. Deshalb stehen die Verurteilung der Hamas und derer bei uns, die den Terror zum Akt der „Befreiung“ verzerren, einerseits und die ebenso klare Verurteilung des völkerrechtlichen Vorgehens durch Israel andererseits nicht im Widerspruch zueinander, sondern auf derselben Grundlage. Eine Grundlage, die man einer bekannten linken Hymne entnehmen kann: „Die Internationale erkämpft das Menschenrecht.“

Fundamente des Fortschritts finden

Die Bestimmung des Platzes zwischen den Stühlen ließe sich fortsetzen, auch jenseits internationaler Konflikte. Natürlich kann es zwischen dem Recht der Menschen auf Arbeit, Gesundheit oder Wohnung und dem Recht auf Selbstbestimmung in Fragen der persönlichen, auch geschlechtlichen Identität keinen Widerspruch geben, wenn sich die Linke ein naheliegendes Motto zu eigen macht: Emanzipation ist nicht teilbar. Zumal, Stichwort Recht, der Anspruch auf all diese Dinge in internationalen Konventionen wie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte oder dem Internationalen Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte festgeschrieben ist.

Völkerrecht, Ächtung von Kriegen, diplomatische Konfliktlösung, Achtung der planetaren Grenzen und Schutz sowohl vor sozialer als auch vor sexistischer Benachteiligung und Diskriminierung – für Linke ist das selbstverständlich, sollte es zumindest sein. Könnte es nicht ein Weg zu einem „anschlussfähigen“ fortschrittlichen Bündnis sein, diese Fundamente von Fortschritt als solche zu benennen, wo nötig deren Erweiterung anzustreben und eine Politik, die sie realisiert, immer neu zu entwickeln und einzufordern? Hätte es nicht etwas Befreiendes, diese Haltung als Alternative zu Konflikten zu verstehen, in denen das eine Recht gegen das andere ausgespielt wird, nicht selten auch unter mehr oder weniger Progressiven: Verteidigung gegen Kriegsvermeidung, Klasse gegen Identität, Klimaschutz gegen soziale Gerechtigkeit? Längst nicht alle Fragen wären damit beantwortet. Aber zwischen den Stühlen fände sich der Boden, auf dem die gesellschaftliche Linke sich gut bewegen kann, um Antworten zu finden.