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Vor Gericht und auf hoher See

Dürfen EU-Staaten Schiffsflüchtlinge abweisen?

"Wir sind heute nicht hier, um diese Operation abstrakt zu diskutieren. Es sind die Flüchtlinge, die wir ins Zentrum der Anhörung stellen möchten, die humanitäre Tragödie, die sie durchleben mussten. Wir sind hier, um über ihr Schicksal zu diskutieren, vielleicht über ihr Leben, vielleicht über ihren Tod", sagte Rechtsanwalt Anton Giulio Lana in der mündlichen Verhandlung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Sommer in Straßburg. Gemeinsam mit seinem Kollegen Andrea Saccucci vertritt er ehrenamtlich 24 Kläger aus Eritrea und Somalia in der Rechtssache Hirsi und andere gegen Italien, in der an diesem Donnerstag die Entscheidung erwartet wird.

Wenn das Urteil so ausfällt, wie es viele Fachleute erwarten, dürfte es die bisherige Praxis des Grenzschutzes an Europas Seegrenzen verändern. Der Gerichtshof hat in erster Linie darüber zu entscheiden, ob bei Abfang- und Rückschiebemaßnahmen, sogenannten Push-Back-Operationen, jenseits des europäischen Territoriums, wie sie sowohl die südlichen EU-Staaten als auch die europäische Grenzschutzagentur Frontex zum "Schutz der europäischen Außengrenzen" vornehmen, endlich verbindlich das "Refoulement-Verbot" gilt.

Dieses Verbot ist der Eckpfeiler des internationalen Flüchtlingsrechts und besagt, dass keine Person in ein Land abgeschoben werden darf, in dem ihr Gefahr für Leib und Leben oder der Verlust der Freiheit droht. Es ist sowohl in der Genfer Flüchtlingskonvention garantiert als auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), diversen UN-Menschenrechtsabkommen und der EU-Grundrechtecharta. Es ist zudem eng mit seerechtlichen Vorschriften verknüpft. Es geht also um die Frage, ob diejenigen Flüchtlinge, die auf dem Mittelmeer abgefangen oder aus Seenot gerettet werden, einfach wieder in die nord- und westafrikanischen Staaten zurückgebracht werden dürfen.

Dazu muss zunächst geprüft werden, ob unter ihnen Schutzbedürftige sind. Erfahrungsgemäß stellen 75 Prozent aller Personen, die über das Mittelmeer etwa nach Italien einreisen, einen Asylantrag, woraufhin wiederum 50 Prozent einen Aufenthaltstitel erhalten. Das heißt, es geht in der Klage auch um die Frage, ob die Flüchtlinge an Europas Außengrenzen den Rechtsschutz auch durchsetzen können, den die Europäische Menschenrechtskonvention garantiert.

In der nun verhandelten Push-Back-Operation vom 6. Mai 2009 fand nichts dergleichen statt. Vielmehr wurden alle 231 Migranten - unter ihnen Schwangere und unbegleitete Minderjährige - an Bord der Schiffe der italienischen Grenzpolizei pauschal als sogenannte illegale Migranten behandelt. Ohne dass auch nur ihre Namen oder ihre Herkunftsländer registriert worden wären, wurden sie auf der Grundlage des "Freundschaftsvertrages" zwischen Berlusconis Italien und Gaddafis Libyen nach Tripolis zurückgebracht. Die italienischen Grenzschützer behaupteten später, niemand habe Asyl beantragen wollen. Dabei verschwiegen sie, dass man die Flüchtlinge bis zum Schluss in dem Glauben ließ, die Schiffe steuerten Lampedusa an. Aus Europa kam keinerlei Kritik daran, weder von den anderen Mitgliedsstaaten noch von der Europäischen Kommission.

Dieser Vorgang ist nach Untersuchungen diverser Menschenrechtsorganisationen kein Einzelfall - doch fast nie gelangt ein solcher Fall vor die Gerichte. Denn aufgrund der Umstände sind die Flüchtlinge nicht in der Lage, rechtlich gegen diese Maßnahmen vorzugehen. Sie landen nach der Rückschiebung in den berüchtigten, teilweise EU-finanzierten Lagern Nordafrikas, so auch die Kläger des Falles Hirsi: Ihnen hatte man sämtliche Papiere, das Geld und die Mobiltelefone abgenommen. Die aktuelle Klage vor dem EGMR stellt deshalb eine der ganz wenigen Ausnahmen dar, die überhaupt nur dadurch ermöglicht wurde, dass der italienische Flüchtlingsrat mit Hilfe des UN-Flüchtlingshilfswerks in eines der Lager gelangte und so die Vollmachten der Betroffenen für Klagen einholen konnte. Zudem waren zwei Journalisten der französischen Zeitschrift Paris Match an Bord der Schiffe und dokumentierten diese Vorgänge. Doch auch das ist noch keine Garantie dafür, dass das Verfahren nicht noch in letzter Minute scheitert. Nicht zufällig ficht die italienische Regierung die Vollmachten an und moniert, dass zuvor nicht der nationale Rechtsweg beschritten wurde.

Die inhaltlich entscheidende Rechtsfrage ist jedoch, ob das Refoulement-Verbot der Europäischen Menschenrechtskonvention im staatsfreien Gebiet der Hohen See, also jenseits des EU-Territoriums, Geltung beanspruchen kann. Diese Feststellung steht höchstrichterlich bisher noch aus. Die italienische Regierung bestreitet dies und bezeichnet die Klageschrift als "politisches Manifest gegen Italien". Dass das Verbot gilt, diese Auffassung wird hingegen in der juristischen Fachliteratur mehrheitlich vertreten mit dem Argument, es komme auf die Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt und nicht den Ort ihrer Ausübung an. Der Ausgang dieser Rechtsfrage wird nicht nur in Europa mit Spannung erwartet, sondern ebenso in Australien und den USA, vor deren Küsten sich ähnliche Vorfälle abspielen. So erklärt es sich, dass diverse Menschenrechtsorganisationen Stellungnahmen einreichten - unter ihnen haitianische und US-amerikanische Juristen, die mit einer negativen Entscheidung des obersten Gerichtshofes der USA aus dem Jahr 1993 zu kämpfen haben. Der Gerichtshof könnte also ein Grundsatzurteil für die Rechtsstaatlichkeit an Europas Seegrenzen sprechen. Weitere Klagen könnten daran anknüpfen, selbst solche in den USA und Australien, weil in der völkerrechtlichen Rechtsauslegung darauf zurückgegriffen werden kann.

Mittlerweile hat die neue italienische Regierung das bilaterale Abkommen mit dem libyschen Übergangsrat bereits erneuert, und auch die Rückschiebepraxis wird unabhängig vom Urteil zunächst weitergehen und sich zunehmend in die Küstengewässer Nord- und Westafrikas verlagern. Das macht neue Klagen notwendig. Das Urteil wäre also nur ein erster Schritt. Das Recht auf globale Bewegungsfreiheit liegt noch in weiter Ferne. Dennoch hat der Ausgang des Verfahrens weitreichende Folgen. So sammelt die europäische Grenzschutzagentur Frontex bisher noch nicht einmal Daten darüber, ob während ihrer Operationen an Europas Außengrenzen Asylanträge gestellt werden, und verhindert so eine rechtsstaatliche Kontrolle. Vor allem aber hätten die Kläger einen Etappensieg erzielt: gegen den Versuch der europäischen Regierungen und EU-Behörden, rechtsfreie Räume an den Außengrenzen zu schaffen.

Dieser Artikel wurde am 22. Februar in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht.

Nachtrag

Am 23. Februar hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg Italien wie erwartet für seine Abschiebepraxis verurteilt. Das Urteil finden Sie hier.

Am 24. Februar hat SWR2 Dr. Sonja Buckel zum Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte interviewt. Den Radiobeitrag können Sie sich hier anhören.