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Finsternis im hohen Hause

Über die Verzwergung von Parlament und Abgeordneten

Die Macht zur Rechtssetzung liegt in den Ministerien, Parlament und Abgeordnete verzwergen. 'Wir brauchen eine Verfassungsänderung', argumentiert Wolfgang Neskovic, MdB und ISM-Vorstandsmitglied, und erläuterte Problemstand und Lösungsansatz in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 11.9.2011. Dies ist die ungekürzte, weiter bearbeitete Fassung des Meinungsbeitrages.

Im April war der Bundestag für einen Tag gar nicht wiederzuerkennen. Man diskutierte, rang eigenständig um politische Lösungen. Die gewohnten Mehrheiten hatten sich aufgelöst, der Fraktionszwang blieb vor der Tür. Die Abgeordneten hörten einander zu und sprachen voller Respekt und ohne Polemik zu ihren politischen Gegnern. Die Diskussion zur Präimplantationsdiagnostik bezeichnete die Presse später mit Recht als "Sternstunde des Parlaments." Sterne sind Funken aus Licht in der Dunkelheit. Gewöhnlich ist es finster bestellt um den bundesdeutschen Parlamentarismus. Die Debatten sind selten fair und meist langweilig. Die Abstimmungsergebnisse stehen schon vor der Debatte fest. Die Bundesregierung gebraucht das Parlament wie eine weisungsunterworfene Gesetzgebungsbehörde. Die ersten Vertreter des Volkes haben nichts zu sagen und müssen doch ständig reden. Sie sind verzwergte Gestalten. Kürzlich probten sie den Aufstand der Verzwergten. Ein Geheimpapier des Bundesfinanzministers zum erweiterten Eurorettungsschirm wurde öffentlich. Die Abgeordneten waren erstaunlich erbost. Das Papier missachte das parlamentarische Budgetrecht. Wer in welcher Höhe und auf welche Weise mit deutschen Staatsfinanzen gerettet werde, sei immer noch Sache des Deutschen Bundestages. Der parlamentarische Protest wirkte vital. Im Wahrheit aber dürfte es sich eher um ein letztes Aufbäumen gehandelt haben. Es steht am Ende eines allmählichen Siechtums der parlamentarischer Macht.

Ein zentrales Prinzip schuf einst die Parlamente. Seine Vernachlässigung erklärt heute ihren Niedergang: Die Gewaltenteilung. 1748 veröffentlichte Baron de La Brède et de Montesquieu ein staatstheoretisches Hauptwerk der Aufklärung: "Vom Geist der Gesetze". Der Baron suchte nach den systematischen Grundlagen einer freien Gesellschaft. Sie sei nur denkbar, wenn der Regierungsgewalt die Macht genommen wird, Gesetze zu schaffen. Dafür sollte eine eigenständige Gewalt zuständig sein: das Parlament. Die Bundesrepublik ist der Verfassung nach ein Staat im "Geist der Gesetze." Die Macht zur Rechtssetzung liegt beim Parlament. Doch Koch und Kellner haben längst die Rollen getauscht. Die wirkliche Macht zur Rechtssetzung liegt bei der Bundesregierung. Die Ministerien entwerfen fast alle Gesetzesinitiativen. Selbst für die überschaubare Zahl der Vorlagen der Regierungsfraktionen schreiben die Ministerialen die Grundentwürfe und deren Anpassungen. Auch das Schäuble-Papier war so ein Grundentwurf.

In den Bundesministerien tüfteln Tausende Köpfe an der zu beschließenden Gesetzlichkeit. Die Mitglieder des Deutschen Bundestages nicken sie gewöhnlich nur noch ab. In ihren kleinen Büros verkämpfen sich drei oder vier Mitarbeiter bei dem Unterfangen, Welten aus Papier in verständliche Entscheidungsvorlagen im Din-A4-Format zu verwandeln. Diese Simplifizierungen politischer Komplexität nennen die Abgeordneten "Sprechzettel". Doch eigentlich handelt es sich um die Verschriftlichung von Sprachlosigkeit.

Ein Abgeordnetenbüro, dass nie isst, nie schläft, nur liest oder schreibt, wäre dennoch außerstande, der Fülle der zu beurteilenden exekutiven Initiativen gerecht zu werden. Es fehlt den Parlamentariern schon die personelle Ausstattung, um den Sinn oder Unsinn von Gesetzesinitiativen überhaupt diskutieren zu können. Den parlamentarischen Diskurs über die Gesetzgebung ersetzt daher ein Prinzip, das so einfach ist, dass auch dressierte Meerschweinchen ihm gerecht werden würden: Abgeordnete der Regierungsfraktionen nehmen Regierungsvorlagen an; Oppositionsabgeordnete lehnen sie ab. Oder umgekehrt. Selbst in den für die Facharbeit bestimmten Ausschusssitzungen entscheidet nahezu nie das Sachargument. Der Besitz der Mehrheit ist das Argument. Schnell muss es gehen. Die Tagesordnung ist voll. Es füllen sie die exekutiven Vorlagen. Nach der Finanzkrise steht noch die Neuregelung der Untersuchungshaft oder die Förderung der Solarenergie an. Die Macht der Abläufe erstickt jeden fruchtbaren Gedanken, jede hilfreiche Kritik und jeden sinnvollen Vorschlag aus den Reihen der Abgeordneten. Der Deutsche Bundestag ist ein Parlament, das parlamentarische Rechtssetzung verhindert. Er ist nur noch ein Gebilde, durch das die Regierung muss, wenn sie ihre Gesetze machen will. Die von Montesquieu geschilderte Ballung der Macht in den Händen der Regierungsgewalt ist deutsche Realität geworden. Auch die vom Baron begriffene Folge ist es: Willkür. Als es in Fukushima zu einer Kernschmelze kam, stellte die Bundesregierung das Gesetz des Bundestages zur Laufzeitverlängerung unter ein "Moratorium". Damit erklärte die Regierung ihren Willen, ein Gesetz nicht ausführen zu wollen, zu dessen Ausführung sie jedoch verfassungsrechtlich verpflichtet war. Es war nicht das erste Mal, dass die oberste Exekutive so verfuhr. Auch den gesetzlichen Regelungen zu Internetsperren und zur Wehrpflicht verweigerte sie schlicht die Umsetzung. Der Verfassungsungehorsam der Regierung wurde von den meisten Medien und der Öffentlichkeit willkommen geheißen. Doch auch gewünschte Willkür bleibt Willkür. Heute wird sie beklatscht, morgen gelitten. Ihre einheitliche Ursache ist Machtkonzentration. Es ist die real existierende Macht der Regierung, sich jederzeit genehme Gesetze schreiben und verabschieden zu lassen, welche die Gesetzessabotage hervorbringt. Ein Gesetz nicht zu vollziehen, ist nur eine atypische Unterform seiner Aufhebung, die der Regierung über den Bundestag jederzeit möglich ist. Der Protest der Parlamentarier gegen den unüblichen Weg hielt sich denn auch in Grenzen. Warum sollten die Parlamentarier auch mit Herzblut für die Wirksamkeit von Gesetzen kämpfen? Das täten sie nur, wenn sie diese zuvor mit Herzblut selbst erstritten hätten. Das haben sie aber nicht. So mussten sie nur ertragen, dass die Regierung ihr eigene Gesetzgebung aussetzt. Einige Abgeordneten ballten eine lahme Faust in der Tasche. Der überwiegende Teil blieb gleichgültig. Doch die Gleichgültigkeit verbarg, dass die Entmachtung der Legislative eine neue Qualität erreicht hat. Die Regierung schafft nicht nur die ihr genehmen Gesetze, sondern auch eine Handhabe für zwischenzeitliche gesetzliche Unannehmlichkeiten. Sie nimmt sich heraus, selbst zu entscheiden, an welche Gesetze sie sich halten will und an welche nicht. Die Herauslösung der Rechtssetzungsmacht aus dem Bundestag hat Ursachen. Sie liegen nicht allein im "natürlichen" Bestreben der Regierungsgewalt, die eigene Macht zu mehren. Ein anderer Grund liegt in der wachsenden Verflechtung von Lobbyisten mit den Vertretern der Exekutive. Die deutsche Lobbylandschaft hat längst begriffen, dass die Ministerien für ihre Bemühungen nicht nur besser erreichbar sind, sondern auch viel mehr Macht haben als das Parlament. Zumal Parlamentarier deutlich größeren Transparenzzwängen unterliegen als die Vertreter der Bundesministerien. Lobbyismus und exekutive Machtkonzentration sind natürliche Partner im Kampf gegen die Gewaltenteilung. Die Lobbyisten können gezielter und geräuschloser Einfluss auf die Politik nehmen. Das stille Bündnis mit der Wirtschaft mehrt die Macht einer Regierung. Niemand, das gilt als abgemacht, kann gegen die Wirtschaft Politik machen. Wer die Politik mit ihr gestaltet, gewinnt an Macht. Am Mächtigsten ist, wer es der Wirtschaft ermöglicht, sich ihre eigenen Rechtsgrundlagen zu schreiben. Die Lobby befindet sich nicht mehr im Eingangsbereich der Regierungsmacht. Sie rückt in ihr Zentrum auf

Zu Beginn des Frühjahrs legte der Bundesrechnungshof dem Haushaltsauschuss des Deutschen Bundestages einen denkwürdigen Bericht vor. Er betraf den Einsatz externer Berater durch die Bundesministerien bei der Erstellung von Gesetzgebungsinitiativen. Nur ein einziges Ministerium hatte darauf verzichtet, die Gesetzgebungsarbeit auch durch Dritte erledigen zu lassen. Alle Anderen hatten kräftig beauftragt. In den meisten Fällen wurde nicht einmal eine Ausschreibung durchgeführt. Völlig undurchschaubar blieb, welcher externer Berater aus welchem Grund mit beliebiger Vergütungshöhe Gesetze schreiben durfte. Offen blieb auch, mit wem sich der externe Berater dazu seinerseits beriet. Der Bundesrechnungshof hielt dazu vielsagend fest: "Die Bundesministerien haben nicht immer hinlängliche Vorkehrungen getroffen, um den Verdacht der Beeinflussung von Kernaufgaben der Verwaltung insbesondere bei Normsetzungsverfahren durch sachfremde Erwägungen Dritter, auszuschließen. (…) Wesentliche Grundlage unserer Rechtsordnung ist, dass die öffentliche Hand bei ihrem Handeln allein dem Gemeinwohl verpflichtet ist." Entgegen der eingeübten Wortwahl seines Präsidenten ist der Deutsche Bundestag daher durchaus kein "Hohes Haus." Die Architektur des Berliner Regierungsviertels trügt. Im Maßstab der tatsächlichen politischen Macht ist der Bundestag ein winziges Häuschen tief im Schatten der Bürogebäude von Ministerien und des Kanzleramtes. Hinter diesen erheben sich die Hochhäuser der Wirtschaft.

Montesquieu wusste: Macht muss entzerrt werden. Es lohnt, diesen Ratschlag vor den Hintergründen der heutigen Erfahrungen wieder aufzugreifen. Die Analyse lautet: Die Regierung hat ihr Initiativrecht für Gesetzesvorlagen gründlich missbraucht. Das Initiativrecht muss der Regierung genommen werden, um die Ausgewogenheit der Kräfte zwischen den Staatsgewalten wieder herzustellen. Wir benötigen eine Verfassungsänderung, nach der der Regierung die Mit- und Zuarbeit am Gesetzgebungsprozess über die Fraktionen untersagt ist. Die legislative Macht muss heimkehren in die Gewalt des Parlaments. Die Folgen wären vermutlich so dramatisch wie heilsam für die Demokratie. Die Heilung läge nicht in einer Besserung der menschlichen Natur. Sie läge in der Besserung der Rahmenbedingungen, in der diese Natur sich zurecht finden muss. Das deutsche Parlament wäre gezwungen, seine Gesetzgebung aus eigener Ideenfindung und eigener Facharbeit zu entwickeln. Es wären ihm und seinen einzelnen Abgeordneten die personellen und sachlichen Mittel an die Hand zu geben, um diese Aufgabe aus eigener Kraft und Verantwortung zu leisten. Das legislative Häuschen im Schatten exekutiver und wirtschaftlicher Macht würde dafür weit über sich hinaus wachsen müssen. Das erhöhte Anforderungsprofil würde mittelfristig Fachpolitiker fördern und politische Schwätzer schwächen. Der Grad der Informiertheit der Abgeordneten würde tendenziell steigen. Der Diskurs würde schrittweise sachlicher und verifizierbarer. Die nach Artikel 38 des Grundgesetzes vorausgesetzte persönliche Verantwortung des Abgeordneten in der politischen Auseinandersetzung würde wichtiger werden, die Einbindung in die Fraktionen an Bedeutung verlieren. Sehr viel mehr Gesetzgebungsvorhaben würden tendenziell zu "Gewissensentscheidungen", in denen persönlich um die "richtige" Position gerungen wird. Lobbyismus wäre in der öffentlichen Atmosphäre des Parlamentes transparenter. Im Ganzen würde die verfassungsrechtliche Idee in der Wirklichkeit gestärkt, wonach Abgeordnete die unabhängigen Vertreter des ganzen Volkes sind. Das gemeine Wohl fände stärkere Beachtung, Partikularinteressen träten zurück. Die Politik könnte wieder an Anerkennung in der Gesellschaft gewinnen. Über die "Sternstunde" zur PID schrieb die Leipziger Volkszeitung: "Es gibt Debatten, die ahnen lassen, dass der Bundestag mehr kann, als er in der Regel vorgibt. Es sind Debatten, in denen noch um Positionen und Lösungen gerungen wird." Ein Parlament, das um Positionen und Lösungen ringt, können wir an jedem einzelnen Sitzungstag bekommen. Wir müssen nur den Mut finden, die Spielregeln der Macht zu ändern. Der "Geist der Gesetze" weist dazu immer noch den Weg.