- Andreas Mijic
Bündnisfähig werden, ohne sich klarer Inhalte zu berauben – ein Plädoyer für revolutionäre Entspanntheit
- © Jan Kahanek/ unsplash
Kommentar zum Thesenpapier „Zur Lage nach dem Bundestagswahlkampf“ des ISM-Vorstands
Zwei Fragen drängen sich mir auf, wenn ich über eine künftige breite linke Bewegung hierzulande nachdenke. Erstens: Wie ist es zu schaffen, Parteien wie (noch allein) DIE LINKE und nicht-parteiliches Engagement in der Gesellschaft zu einer Einheit zu verknüpfen, die sich auf Dauer parlamentarisch und außerparlamentarisch mehr Gehör verschafft? Und: In welcher Form gilt es, sich inhaltlich aufzustellen. Macht es Sinn, sich umfassend zu positionieren – oder sollte sich eine Bewegung, die in der Breite Kraft gewinnen will, auf wenige zentrale Zukunftsfragen werfen? Die erste Frage dürfte schnell beantwortet sein. Aus meiner Sicht müssen dringend alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, linke Politik und linke Visionen zu transportieren. Nichts darf unversucht bleiben, um parlamentarisch mehr Gewicht zu bekommen und der immer weiter nach rechts driftenden sogenannten Mitte linke Perspektiven entgegenzusetzen.
Die zweite Frage ist sehr viel schwieriger zu beantworten und macht das Zusammenspiel von parlamentarischen und außerparlamentarischen Kräften zu einem komplizierten und fragilen Projekt. Parteien, die Parlamentsarbeit ernst nehmen und sich in alle Debatten, die in Parlamenten geführt werden, einbringen wollen, können sich nicht auf wenige wichtige Politikfelder beschränken. Sie müssen Kompetenz in allen Bereichen der Politik beweisen. Ob programmatisch oder in der direkten politischen Auseinandersetzung. Außerparlamentarische Bewegungen bekommen um so mehr Kraft, Aufmerksamkeit und Chancen für eine Durchsetzung ihrer Anliegen, je gezielter sie Politik in den Fokus rücken. Beispiele wie die Anti-Atomkraft-Bewegung haben das gezeigt. Hier haben sich vor Jahrzehnten Vertreter vieler gesellschaftlicher Gruppen zusammengefunden, Ziele formuliert, Druck auf Parteien gemacht.
Vorteil damals: Die außerparlamentarische Bewegung hatte in der Grünen-Partei ihren expliziten parlamentarischen Arm. Eine Partei, die sich anfangs vor allem als Umweltpartei verstand. Der man hätte vorwerfen können – und ihr dann auch zunehmend vorwarf –, sich um Themen jenseits von Umwelt, Klima und Energie zu wenig zu kümmern. Ihr fehlten in der Gründungsphase und auch den Jahren danach klare Konturen auf anderen Politikebenen. Der Nachteil war allerdings zugleich ihre Stärke. Denn zusammen mit dem außerparlamentarischen Druck der Anti-Atomkraft-Bewegung konnte mit der Zeit auch größerer parlamentarischer Druck auf das Lager der etablierten Parteien aufgebaut werden. Das alles und das Flankieren des Prozesses etwa durch wissenschaftliche Expertisen führten am Ende dazu, dass sich Regierungen der grünen Phalanx in Parlament und Gesellschaft nicht mehr entziehen konnten.
Seitdem allerdings hat ein Prozess eingesetzt, der auf der außerparlamentarischen, wie auf der parlamentarischen Seite folgenreich gewesen ist. Die Grünen konnten sich mit der Zeit nicht mehr auf ihrer im weitesten Sinne umweltpolitischen Kompetenz ausruhen. Sie mussten, auch um aus der Position einer oppositionellen Partei in eine Position zu gelangen, in der Regierungsverantwortung greifbar näher rückte, ihr programmatisches und handlungsorientiertes Spektrum innen- und außenpolitisch stark erweitern. Ihr Einfluss wurde größer, sie wurden zu Koalitionspartnern. Zugleich brachen damit bislang verschüttete politische innerparteiliche Divergenzen auf. Ein Phänomen, das die Partei bis heute immer wieder vor Zerreißproben stellt. Und Zweifel daran aufkommen lässt, ob sie – etwa in der Migrationspolitik – ein verlässlicher Partner linker und linksliberaler Strömungen in der Gesellschaft ist oder sein kann.
Gefahren für das grüne Projekt
Außerparlamentarisch führte diese Wandlung dazu, dass den Grünen junge Anhänger davonliefen, politische Risse zwischen einer gesellschaftlichen Linken und den Grünen nicht mehr zu kitten scheinen: Das zeitweise vielversprechende grüne Projekt droht zu zerfleddern und ist unberechenbar. Warum das für ein Projekt neuer linker Allianzen relevant ist? Weil auch DIE LINKE schauen muss, wie sie mit den Fallstricken umgeht, die sich im Verhältnis von parlamentarischer Arbeit mitsamt möglicher Regierungsperspektiven und außerparlamentarischer Bewegung auftun. Es ist keineswegs so, dass die Linkspartei davor gefeit ist, sich im Zuge innen- und außenpolitischer Fragen aufzureiben und nach der aktuellen Welle der Sympathie wieder an tragfähiger Attraktivität zu verlieren. Und damit auch Möglichkeiten, sich als Teil einer breiteren gesellschaftlichen Kraft links der Mitte aufzustellen, zu verspielen. Ein heikler Balanceakt.
Vor diesem Hintergrund scheint es geboten, genau zu erkennen, was parlamentarisch erforderlich und außerparlamentarisch wünschenswert ist, um ein dringend notwendiges und handelndes Gegengewicht zu dem darzustellen, was sich derzeit bei den etablierten Parteien einschließlich der Grünen einfräst: In einer falsch terminierten Abwehr rechter Kräfte (AfD und andere) über Brandmauer-Bilder das zu tun, wozu Mauern verleiten: Sich so nah wie möglich an sie heranzuwagen. Es ist, um in Bildern zu bleiben, ein Spiel mit dem Feuer. Dessen ernster Kern sich gefährlichen Raum schafft. Nicht nur, dass sich die asylpolitischen Vorstellungen von SPD und Grünen spürbar von einem verlässlichen linken oder linksliberalen Konsens über demokratische Grundrechte entfernen. Sozialpolitik bleibt eine Leerstelle, statt Friedenspolitik erfolgt eine Militarisierung der Außenpolitik, das Völkerrecht wird vielfach gebeugt, demokratisch notwendige Diskurse werden diskreditiert. Eine Melange von einiger Sprengkraft.
Wie dem begegnen?
Es erscheint wichtig, dass Diskussionen in linken Think-Tanks wie dem ISM – auch dann, wenn sie nur intern geführt werden – machbarer linker Politik folgen sollten. Sich also auf eine breite linke Bewegung richten, die sich einerseits nicht in der Verteidigung einer teils porösen Demokratie gegenüber dem rechten Lager und einer nach rechtsdriftenden Mitte erschöpft. Sich andererseits aber auch nicht in eine Richtung bewegt, hinter der sich – auch wenn gut argumentiert – nicht wirklich viele progressive Strömungen versammeln können. Eine linke Sammlungsbewegung darf weder an überhöhten Visionen noch an überambitioniertem Detail-Streit scheitern. Natürlich wird die Welt, sind Probleme immer komplexer. Bisweilen aber sind sie weniger komplex, als es uns eine Politik suggerieren möchte, die sich hinter Fangschirmen angeblich Lösungen im Weg stehender Realitäten versteckt.
Der Widerspruch zwischen Altersarmut und Milliardeninvestitionen in eine Aufrüstung, die keinen Frieden, nicht mal halbwegs tragfähige Konfliktlösungen bringt, ist unübersehbar. Das Pochen auf universelle Menschenrechte gegenüber Israel ist unabdingbar – und greift, auch ohne Ausflüge in die Geschichte Palästinas und Israels zu unternehmen, die immer wieder Gefahr laufen, die Stringenz linker Positionen durchlöchern. Das Völkerrecht spricht eine klare Sprache, wer dagegen verstößt, gehört vor internationale Gerichte. Rassismus und Apartheid sind ein No-Go – wo immer und wann immer auch. Die Linke (als Bewegung) lässt ich da keine Keile in die Debattentüren klemmen. Der Klimawandel ist belegt, er zerstört absehbar die Welt. Wer das ignoriert oder leugnet, ist unglaubwürdig und taugt nicht für eine ernsthafte Zukunftsdiskussionen. Das alles klingt, zugegeben, sehr plakativ. Aber linke Politik muss plakatiert werden.
Mehr links orientiertes Selbstbewusstsein
Die Massendemonstrationen gegen rechts waren plakativ. Das Auftreten von Heidi Reichinnek in den sozialen Medien war und ist plakativ. Ihre Rede im Bundestag ebenso. Das sind wenige Beispiele dafür, wie links orientiertes Selbstbewusstsein gestärkt und zu einer wachsenden Anhängerschaft führen kann. Es braucht auf der Linken weiterhin Mut, sich einerseits zu eigenen Überzeugungen zu bekennen und entsprechend in den Institutionen parlamentarischer Demokratie aufzutreten und diese Bühne zu nutzen. Und sich andererseits außerhalb dieser Institutionen über ideologiebelastete Gräben hinweg mit jenen zu verbünden, deren Motive, gegen die etablierte Politik anzuarbeiten, sich nicht zugleich auch systemkritisch darstellen. Pathetisch könnte man es angelehnt an Margot Friedländer so formulieren: Es reicht zunächst einmal, Mensch und menschlich zu sein. Und die Politik darauf zu verpflichten.
Derlei, ja: Pathos, kommt wenig klassenkämpferisch, wenig marxistisch daher. Und mag nicht jene in linken Debatten bedienen und zufriedenstellen, die hinter dem durchaus systemisch bedingten Versagen der Politik in wichtigen, auch existenziellen Dingen die Notwendigkeit einer dezidiert antikapitalistischen, sozialistischen Grundhaltung getragenen breiten Bewegung sehen. Genauso könnte man aber darauf setzen, dass aus der Erkenntnis heraus, dass auch simpelste demokratische und rechtsstaatliche Grundlagen der Gesellschaft oft schwer zu verteidigen, zu schützen und auszubauen sind, eine tiefergreifendere linke Bewegung entsteht. Die dann auch Systemfragen stellt. Bis dahin freilich scheint es ein eher längerer Weg. Zu dem es allerdings kaum eine Alternative gibt, sollen aufblühende (Wahl)Erfolge wie die der Linken nicht angesichts überzogener Ambitionen geschrumpft werden.
Politisch-mentale DNA im Auge behalten
Macht sich die Linke (als Bewegung und Partei) ehrlich, dann sind zwar an die 9 Prozent Stimmen bei der Bundestagswahl und die 10/11 Prozent in aktuellen Umfragen, zusätzlich zu tausenden Partei-Eintritten, Grund zur Zuversicht. Sie zeigen, dass ein Tal auch mit neuer linker Verve durchschritten werden kann. Allerdings stehen auf der anderen Seite, dazu zähle ich die Rechte und eine Mitte, die sich mehr oder weniger temporeich in eine rechtskonservative bis rechte Richtung bewegt, deutliche Mehrheiten. Die es zu brechen gilt. Machen wir uns nichts vor: Wir holen die Menschen nicht mehr bei einer Sozialdemokratie ab, die ihren Namen verdient. Auch nicht bei Grünen, wie wir sie einmal kannten und ins linke(re) Lager rechneten. Da mögen wir noch so sehr auf die Jungen zählen, den Zulauf zur Linken beschwören. Die Linke muss weit greifen, damit linke Perspektiven in der Breite relevant werden.
Verweise auf Frankreichs Volksfront, auf andere Länder in Europa, der Welt, können nur begrenzt hilfreich sein und die Linke in Deutschland auf die richtige Spur führen. Andere linke Traditionen, andere linke Perspektiven! In Frankreich oder auch Italien etwa kann die Linke, explizit die kommunistische Linke, auf eine sehr viel berührungsoffenere Gesellschaft setzen. Deswegen unter anderem auch die Wahlerfolge der französischen NFP. Allein die deutsche Gewerkschaftslandschaft ist auch in den laufenden Debatten nicht wirklich gut hörbar politisch zu vernehmen. Das mag daran liegen, dass sie auf tarifpolitische Fragen festgelegt ist. Wie anders dagegen etwa die CGT. Wer also links Dampf machen will, muss die politisch-mentale DNA einigermaßen im Auge behalten. Verknöcherte Strukturen, auch im Denken, sind – auch links – weit verbreitet. Wer sie aufbrechen will, muss auch in der Lage sein, sie bei sich selbst aufzubrechen.
Will heißen: Auch Terminologien sind entscheidend für Erfolge. Das bedeutet nicht, sich in eine chamäleonartige Linke zu verwandeln, die je nach Aktionsfeld eine andere Sprache spricht. Das bedeutet aber, auch die Sprache, ohne sich klarer Inhalte zu berauben, bündnisfähig zu machen. K-Gruppen-geschädigt fällt einem dazu eine Menge ein. Unter anderem, dass auffällig war, wie eine dogmenbehaftete Agenda auch dogmenbehaftete Terminologien befördert hat. Damit war für viele, auch bei bestem Willen, kein Anknüpfungspunkt mehr zu finden. Dabei hätte man sich in vielen grundsätzlichen Fragen durchaus zusammentun können. Statt manifeste Bündnisse zu schmieden, erfolgte maximale Zersplitterung. Auch daraus lässt sich lernen. Wenn also ernsthaft ein Bündnis unter Einschluss auch nicht dezidiert sozialistischer Kräfte angesteuert wird, dann muss es so etwas wie „revolutionäre Entspanntheit“ geben. Ohne zentrale Stoßrichtungen aufzuweichen. Die Linke ist da auf gutem, ausbaufähigem Weg.
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Andreas Mijic* ist Journalist und schreibt für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften, u.a. für die Wochenzeitung FREITAG