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Für eine sozial-ökologische Transformation der Vielen

Kommentar von Katrin Mohr zum neuen ISM-Papier

Wir haben nur noch wenige Jahre, um den Klimawandel aufzuhalten und die ökologische Transformation zu gestalten. Gleichzeitig müssen wir es schaffen, dass dieser Wandel sozial gerecht abläuft und nicht auf Kosten derer geht, die ohnehin nicht viel haben. Ein Kommentar von ISM-Kuratoriumssprecherin Katrin Mohr zum neuen ISM-Papier "Wir brauchen einen neuen ökologischen und solidarischen Gesellschaftsvertrag"  auf der Diskussionsveranstaltung am 29.07.2021.

Zur ersten These:
„Wir erleben den Beginn eines Grünen Kapitalismus. Ein konservativer „Green New Deal“ führt zu einem erneuerten Neoliberalismus ohne soziale Idee. Aufgabe der Progressiven ist es daher, die Weichen für ein sozial-ökologisches Transformationsprojekt zu stellen.“

Ich teile die Diagnose, dass wir uns in einer „hochbrisanten, unsere Lebensweise in jedem Sinne umwerfenden Zeit befinden“. Spätestens die Flutkatastrophe im Westen Deutschlands hat uns gezeigt, welch drastische Folgen die Erderhitzung auch hierzulande und nicht nur in den weit entfernten besonders betroffenen Regionen des globalen Südens hat und haben wird. Das drohende Erreichen planetarer Grenzen und Kipppunkte des Klimas macht einen sehr schnellen, sehr grundlegenden Wandel unserer Wirtschaft und Lebensweise notwendig. Wir haben nur noch einige wenige Jahre, um den Klimawandel aufzuhalten und die ökologische Transformation zu gestalten. Für „change by design, not by desaster“.


Gleichzeitig müssen wir es schaffen, dass dieser Wandel sozial gerecht abläuft und nicht auf Kosten derer geht, die ohnehin nicht viel haben. Und dass er so gestaltet wird, dass die Beschäftigten in Branchen, die sich stark wandeln müssen, dabei nicht auf der Strecke bleiben. Das ist nicht nur für den sozialen Zusammenhalt elementar, sondern auch für die Akzeptanz des Klimaschutzes und damit für die Zukunft aller auf diesem Planeten.
 Das funktioniert nicht mit Marktanreizen wie dem CO2-Preis und grünen Technologien allein – auch wenn gerade letztere eine wichtige Rolle in der Bewältigung der Klimakrise spielen können und werden. Wir brauchen daneben vor allem Investitionen, Regulierung und eine soziale Flankierung der sozial-ökologischen Transformation. Mindestens also eine grundlegende Reform des Systems, wenn nicht gar einen system change.


Auch in sozialer Hinsicht ist die gesellschaftliche Ausgangslage brisant: Skandalös hohe Armutsraten in einem reichen Land wie Deutschland, immer weiter zunehmende Ungleichheit und Prekarität, mangelnde Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten stellen die Integrationsfähigkeit des liberal-demokratischen Systems in Frage und haben vielerorts dem Rechtspopulismus massiven Auftrieb gegeben – nicht einer linken Politik der sozialen Gerechtigkeit. Das wirft viele Fragen und Kontroversen auf, die aber sicher nicht damit zu beantworten sind, so genannte Identitätspolitik und Klassenpolitik gegeneinander auszuspielen. 

Transformation sozial und demokratisch gestalten

Richtig konstatiert ist in dem Papier auch, dass eigentlich nur eine rot-rot-grüne bzw. grün-rot-rote Bundesregierung in der Lage wäre, die notwendige ökologische Transformation sozial und demokratisch, als eine Politik der Vielen zu gestalten. Und auch, dass eine solche Regierungskonstellation dies nur könnte, wenn sie von einer starken gesellschaftlichen Stimmung und sozialen Bewegungen getragen würde. Die Konzepte und politisch-inhaltlichen Schnittmengen der drei Parteien sind da und sie sind groß:

Von einem sozial-ökologischen Investitionsprogramm und der aktiven staatlichen Unterstützung des ökologischen Wandels wie es sich in den Wahlprogrammen aller drei Parteien findet, über eine umverteilende Steuerpolitik, einen höheren Mindestlohn, die Regulierung prekärer Beschäftigung, die Aufwertung professioneller Sorgearbeit, die Überwindung von Hartz IV, die Stärkung der gesetzlichen Rente, ein Gesundheits- und Pflegesystem, dass die Bedürfnisse der Menschen und nicht die Profite in den Mittelpunkt stellt. Arbeitszeitverkürzung, mehr Vereinbarkeit und vieles mehr: Wenn man die Wahlprogramme von SPD, Grünen und LINKEN neben einander legt, ließe sich daraus schnell ein gemeinsames Regierungsprogramm entwickeln.  

Leider sehen die Umfragen in den vergangenen Monaten und Wochen aber nicht einmal eine rechnerische Mehrheit für eine solche Regierungskonstellation. Grün-Rot-Rot liegt recht konstant bei 40 Prozent plus X und fast ausnahmslos deutlich unter 50 Prozent. Was heißt das für uns? Darauf komme ich später zurück. 

Zur zweiten These: 
„Es gibt bereits gute, umsetzbare Ideen für eine gleichermaßen soziale wie ökologische Transformation von Arbeit und Gesellschaft.“

In progressiven Parteien, sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und Verbänden – kurz:  in der Mosaik-Linken gibt es für alle relevanten Bereiche und Themenfelder der sozial-ökologischen Transformation Ideen, Konzepte und Reformprogramme, aus denen sich auch eine positive Vision einer klima- und sozial gerechten Zukunft entwickeln ließe, die Attraktivität weit in die Gesellschaft hinein ausstrahlen könnte. 

Im Dialog-Papier werden aus diesem Fundus einzelne Themen und Projekte zentral gestellt und ich finde diese als Kernprojekte einer sozial-ökologischen Transformation weitgehend richtig identifiziert. Leider fehlt mir die Zeit auf jedes im Einzelnen einzugehen. Lasst mich daher ein paar Schlaglichter auf einige Themen werfen, wo aus meiner Perspektive noch Diskussionsbedarf über die Stoßrichtung und Ausgestaltung besteht.

Arbeitszeitverkürzung als Transformationsprojekt

Diese kann uns in der Tat helfen, in bestimmten wirtschaftlichen Bereichen, die sich stark wandeln müssen, Beschäftigung zu sichern und gesamtgesellschaftlich Arbeitsvolumen umzuverteilen. Arbeitszeitverkürzung schafft mehr Zeitsouveränität und Vereinbarkeit, spart Stress und Pendelzeiten und hat auf diese Weise auch viele andere positive soziale Wirkungen. Wenn ich Eure These lese, stellt sich mir allerdings die Frage: Wie kommen wir –  gegen den entschiedenen Widerstand der Arbeitgeber*innen, den wir als IG Metall immer wieder mit aller Härte spüren, wenn wir das Thema anfassen, dorthin?

Arbeitszeitverkürzung als transformatives Projekt ist schnell gefordert, aber die Forderung bleibt voluntaristisch, wenn das politische Subjekt und die Durchsetzungsperspektive dafür fehlen. Der Gesetzgeber hat in der Arbeitszeit nur begrenzte Regelungsbefugnisse. Nur starke Gewerkschaften können Arbeitszeitverkürzung tariflich gegen den Widerstand des Kapitals erstreiten. Dafür brauchen sie organisierte, entschlossene Belegschaften und starken gesellschaftlichen Rückhalt. Daran gilt es zu arbeiten, um die gesellschaftliche Hegemonie in Richtung kurzer Vollzeit als neuem Normalstandard zu verschieben.
 

Zum Stellenwert von Erwerbsarbeit

Kurze Vollzeit für alle – Teilhabe an guter, klimafreundlicher Erwerbsarbeit, die mit dem Leben vereinbar ist – das wäre aus meiner Perspektive auch die Vision oder Utopie für die wir kämpfen sollten. In These 2 wird diesem Leitbild aber eher eine Absage erteilt. Lohnarbeit für alle wird als nicht länger erstrebenswert dargestellt, insbesondere die Industriearbeit als zerstörerisch, Care bzw. Sorgearbeit als der grundsätzlich gute Gegenpol. 

Aber da würde ich schon mal gerne wissen: Wer erzeugt die erneuerbaren Energien, die wir für die Energie- und Mobilitätswende in riesigen Mengen brauchen? Wer baut die klimafreundlichen Fahrzeuge, produziert den grünen Stahl, dämmt die Häuser, entwickelt smarte Technologien, die uns helfen CO2 einzusparen, forscht an Impfstoffen und Medikamenten, stellt sie her? 

Wir werden auch in Zukunft noch viele Jobs in einer grünen Industrie brauchen und nicht nur Busfahrer*innen, Kita-Erzieherinnen und Altenpfleger. In diesen Bereichen liegen große alternative Beschäftigungspotenziale und es muss aus meiner Perspektive vor allem darum gehen, diese zu erschließen, die Menschen dafür zu qualifizieren und ihnen Brücken von den alten fossilen Jobs in neue, klimafreundliche und zukunftsfähige Beschäftigung zu bauen.


Menschenwürdige Grundsicherungen und soziale Garantien werden als Sicherheitsnetz und Flankierung dafür ganz sicher gebraucht, aber nicht als generelle Alternative zur Erwerbsarbeit. Das bedingungslose Grundeinkommen ist nicht die Lösung ihrer Probleme. Dazu könnte ich viele Gründe nennen, die ich zusammen mit zwei Kolleginnen an anderer Stelle ausgeführt habe. Das würde hier jedoch den Rahmen sprengen.

Zur dritten These: „Die soziale und ökologische Transformation von Arbeit und die Bereitstellung gesellschaftlicher Güter ist bezahlbar.“

Ein massives sozial-ökologisches Investitionsprogramm, das durch eine gerechte Steuerpolitik auf jeden Fall finanzierbar wäre, wenn der politische Wille zur Umverteilung von oben nach unten vorhanden wäre, wäre aus meiner Sicht das Kernprojekt einer progressiven politischen Konstellation. Auch hier gibt es große Schnittmengen bei Rot-Rot-Grün, wenn auch mit unterschiedlich weitreichenden Vorschlägen. Union und FDP liegen dazu völlig konträr. Das wurde in Pressekommentaren, Berechnungen und Satiresendungen sehr deutlich. Ihr Wahlprogramm, das zugleich Klimaschutz, Steuersenkungen und eine Rückkehr zur Schuldenbremse vorsieht, sei eine „intellektuelle Zumutung“, schrieb Stefan Reinecke kürzlich in der taz. Recht hat er damit!


Diese Zumutung könnte aber durchaus real werden und uns in massive Verteilungs- und Abwehrkämpfe führen, auf die es sich vorzubereiten gilt. Gegebenenfalls gilt es dann – auch im Bündnis mit ungewohnten Partner*innen wie z.B. dem Institut der deutschen Wirtschaft, das zusammen mit dem DGB in den kommenden zehn Jahren ein Investitionsprogramm von 450 Milliarden Euro fordert – jenen den Rücken zu stärken, die einer Rückkehr zur Austeritäts-Politik von Union und FDP Widerstand entgegensetzen.

Zur vierten These:
„Demokratie ist in der Lage, Krisen zu bewältigen. Dafür müssen Parteien neu strukturiert, die Organisierung der Zivilgesellschaft vertieft und die Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Ebenen der Demokratie gestärkt werden.“

Auch hier finde ich die Analyse richtig und im Grunde sind alle Voraussetzungen dafür vorhanden und findet diese vertiefte Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen Organisationen und den Parteien ja auch bereits statt. Teilweise gibt es aber eben doch unterschiedliche Interessen, Imperative, Ziele und Geschwindigkeiten innerhalb der verschiedenen Gruppen und Organisationen der progressiven Zivilgesellschaft; 
Die bisher mitunter vorhandene Distanz und Fremdheit zum Beispiel zwischen Umweltgruppen und Industriegewerkschaften ist zwar an manchen Stellen aufgebrochen, die bündnispolitischen Pflänzchen, die vielerorts gehegt werden, wachsen aber nur langsam und sind teilweise noch sehr klein und empfindlich. Es bedarf daher weiter des sorgsamen Hegens und Pflegens, der Arbeit an der Identifikation von Schnittmengen und der Entwicklung gemeinsamer Projekte.


Außerdem müssen wir konstatieren, dass ein progressives Regierungsbündnis derzeit nicht nur an der mangelnden rechnerischen Machtperspektive zu scheitern droht. Alle drei Parteien haben (unterschiedliche) Hemmschwellen, sich darauf einzulassen. Viele zivilgesellschaftliche Akteur*innen sind aufgrund der schlechten Aussichten und der politischen Schwierigkeiten ebenfalls sehr zurückhaltend dafür zu werben.


Für den Sprung ins kalte Wasser 

Ich bin daher sehr pessimistisch für diese Bundestagswahl. Vielleicht entsteht die progressive Regierungskonstellation per Zufall, falls die Zahlen es – aus heutiger Perspektive wider Erwarten – am 26.09. hergeben. Dann müsste das progressive Drittel der Gesellschaft, das auf der Mitgliederversammlung im Juni beschrieben wurde, sich durchringen und maximalen gesellschaftlichen Druck auf SPD, Grüne und Linke ausüben: für den Sprung ins kalte Wasser und das Freischwimmen aus dem neoliberal grün-kapitalistischen Weiter so. Anschließend müsste es die progressive Regierung gegen viele Widerstände bei der sozial-ökologischen Transformation unterstützen und gleichzeitig treiben.

Sich nicht nur dem Optimismus des Willens oder Wunsches hingebend, sollten wir jedoch auch Strategien für andere Regierungskonstellationen entwickeln: Schwarz-Grün, Jamaika, Ampel, Deutschland-Koalition. Viele Bündnisse sind derzeit denkbar. Und auch für diese Konstellationen sollten wir einen Plan entwickeln, wie wir maximalen Druck aufbauen und die sozial-ökologische Transformation im Sinne der Vielen auch unter weniger günstigen Bedingungen voranbringen können.


Auch wenn also die Ausgangsbedingungen nicht ideal erscheinen: Ändern wir die Welt, sie braucht es – mehr denn je! 

Der Kommentar gibt die persönliche Einschätzung und Meinung der Autorin wieder. Hier geht es zum neuen ISM-Papier.