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Statement zum Jahrestag des Anschlags von Hanau

Hanau und Halle müssen zu einer Zäsur werden

Wandbild vom Kollektiv ohne Namen in Hanau

 

"Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst"

Ferhat Unvar, Hanau

"Unsere Kinder dürfen nicht umsonst gestorben sein. Ihr Tod muss das Ende sein, das Ende rassistischer Angriffe. Ihr Tod soll ein Anfang sein von etwas Neuem, von Schulen ohne Rassismus und von einem Zusammenleben, in dem wir alle gleiche Rechte haben."

Serpil Unvar, Hanau

"Rechte, rassistische und antisemitische Gewalt ist Vernichtungsgewalt gegen Menschen, die nicht in das menschenverachtende und faschistische Weltbild von Rechtsextremist*innen passen. Es sind aber auch Botschaftstaten, die sich an die gesamte Gesellschaft und alle Demokrat*innen richten: Sie zielen darauf ab, eine Gesellschaft der Angst zu schaffen und die Bedingungen von Solidarität und Demokratie zu erodieren. Dagegen müssen wir uns wehren!"

Prof. Dr. Esther Lehnert, Vorstandssprecherin ISM

Ein Jahr nach dem rassistischen Terroranschlag in Hanau fehlt es noch immer an politischen Antworten und Konsequenzen, die den institutionellen Rassismus in der Polizei und in Behörden sowie die Kontinuitäten rechter Gewalt als reale Bedrohung der Demokratie in Deutschland begreifen.

Ein Jahr ist seit dem rassistischen Terroranschlag in Hanau vergangen. In Trauer gedenken wir den neun Hanauer*innen, die am 19.2.2020 von einem Rassisten aus ihrer Nachbarschaft ermordet wurden, weil sie nicht in sein faschistisches Menschenbild gepasst haben. Wir erinnern heute an Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Ihre Namen dürfen nicht vergessen werden.

Seit einem Jahr kämpfen die Betroffenen, Überlebenden und Hinterbliebenen des Terroranschlags in Hanau gemeinsam mit der solidarischen Zivilgesellschaft für eine lückenlose Aufklärung, Erinnerung, Gerechtigkeit und weitreichende politische Konsequenzen. Ein Jahr nach dem Verlust ihrer Kinder, Partner*innen, Freund*innen, Nachbar*innen fordern sie noch immer die Aufklärung der Taten und die Beantwortung vieler wichtiger Fragen.

Es darf kein "Weiter so" geben, Hanau, Kassel und Halle müssen zu einer Zäsur werden.


Das rechtsterroristische Attentat in Hanau kam nicht unerwartet. Der CDU-Politiker Walter Lübcke wurde am 15. Juni 2019 an seinem Wohnort bei Kassel hingerichtet, weil er sich im "Sommer der Migration" 2015 solidarisch für die Bleiberechte von Geflüchteten eingesetzt hatte. Der Täter war den Sicherheitsbehörden als Mitglied rechter Netzwerke schon lange bekannt. Videos zeigen den rechtsextremen Mörder von Lübcke auf einer Demonstration am 1. September 2018 in Chemnitz – gemeinsam mit Politiker*innen der AfD. Tagelang wurde damals gegen Migrant*innen gehetzt. Es kam während der Demonstrationen zu Angriffen auf migrantisierte Menschen und den jüdischen Betreiber eines Restaurants. Nur wenige Monate später scheiterte ein antisemitischer Massenmord an Besucher*innen der Synagoge in Halle während der Yom Kippur Feierlichkeiten nur knapp. Für Kevin S. und Jana L. kam jede Hilfe zu spät. Der Täter hat sie auf seiner Flucht ermordet.

Rechtsextreme Gewalttaten sind kein neues Phänomen. Vielmehr müssen wir 75 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus weiterhin über eine unvollständige Entnazifizierung und eine Kontinuität rechter Gewalt in Deutschland sprechen. Das Ausmaß der rassistischen und antisemitischen Gefahr hat seit dem Mauerfall und der anschließenden Welle rechter Gewaltangriffe heute eine neue gesellschaftsgefährdende Dimension erreicht. Der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG e.V.) zählte 2019 täglich mindestens fünf Gewaltübergriffe. Rassismus ist in zwei Dritteln der Fälle das politische Tatmotiv. Die Dunkelziffer liegt um ein Vielfaches höher. Die Statistiken und Schlussfolgerungen des Bundesinnenministeriums spiegeln die Ignoranz und das Versagen staatlicher Stellen bei der Bekämpfung von Rassismus und Antisemitismus wieder.

Zivilgesellschaftliche Initiativen wie das Tribunal ‚NSU-Komplex auflösen‘" und Betroffene rechter Gewalt, wie der Menschenrechtsaktivist und Überlebende der Brandanschläge in Mölln, Ibrahim Arslan, mahnen seit der Selbstenttarnung des NSU, das Ausmaß rechtsterroristischer Gewalt ernst zu nehmen und auf politischer Ebene konsequente Maßnahmen zu entwickeln. Es geht darum, Nazis zu entwaffnen, rechte Netzwerke aufzulösen, Ideologien der Ungleichwertigkeit den Nährboden durch eine konsequente Verteidigung globaler Menschenrechte zu entziehen und eine würdevolle Gedenkkultur aus der Perspektive der Betroffenen zu etablieren.

Um Hanau und Halle zur Zäsur zu machen, müssen wir die Gefahr beim Namen nennen und ihren Ursachen entschlossen entgegentreten. Wir müssen von Rassismus, Antisemitismus und Misogynie reden!

Keine Einzelfälle!


Zur Aufdeckung und Entwaffnung von rechten Netzwerken gehört auch die Bekämpfung von institutionellem Rassismus in der Polizei, in der Justiz, in Schulen, im Gesundheitswesen, in Medien und im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Die NSU-Mordserie mit zehn Mordopfern, die Verstrickungen von deutschen Sicherheitsbehörden und Neonazis, die rechten Chat-Gruppen in der hessischen Polizei, das Hannibal-Netzwerk, die wiederholten Morddrohungen vom sogenannten NSU 2.0 und die neuesten Proteste und antisemitischen Verschwörungsideologien von Corona-Leugner*innen haben eine strukturelle Dimension. Das alles sind keine Einzelfälle. Wenn von "Migration als Mutter aller Probleme" (Zitat von Innenminister Horst Seehofer) gesprochen wird, und von Rassismus allein als subjektivem Vorurteil, wenn Alltagsorte von Menschen mit Migrationsgeschichte durch Racial Profiling unter Generalverdacht gestellt, dann handelt es sich um strukturellen Rassismus. Die mediale und politische Kriminalisierung von migrantischen Alltagsorten ermutigt zu rassistischen Taten. Der Täter hat in Hanau gezielt eine Shisha-Bar und einen Spätkauf aufgesucht, um dort Menschen zu töten.

Ob Hanau und Halle zur Zäsur werden – das ist die Bewährungsprobe eines progressiven Bündnisses der Zukunft!


Dass Hanau und Halle zur Zäsur werden, ist ein Versprechen, das sich zuerst, aber nicht nur, an die Betroffenen richtet. Die Demokratisierung der Demokratie bedarf eines Paktes gegen Rechtsextremismus, Rassismus, Faschismus und Misogynie. Dieser muss auf allen gesellschaftlichen Verhältnissen fußen, in der Kultur, Politik, Ökologie, Arbeit, Mobilität, in den Geschlechterverhältnissen und beim Wohnen. Eine demokratische sozial-ökologische Transformation muss bedingungslos für Alle gelten. Wir müssen die Gleichheit der Rechte erkämpfen und verteidigen!

Die Durchsetzung dieses Paktes, der im Herzen antifaschistisch und antirassistisch ist, hängt vom aktiven Zusammenkommen und dem Einsatz aller politischen progressiven Kräfte ab, im Feld der Parteien, der aktiven Zivilgesellschaft, der sozial-ökologischen und kulturellen Bewegungen, im solidarischen und mosaiklinken Crossover.

Wir fordern:

  • Die Einrichtung eines Rechtsterrorismus-Opferfonds in Hessen
  • Ein Demokratiefördergesetz
  • Eine unabhängige Studie zu institutionellem Rassismus in der Polizei
  • Prävention und Verfolgung von Rassimus in allen staatlichen Institutionen
  • Die Umsetzung der Empfehlungen der NSU-Untersuchungsausschüsse insbesondere des ersten Untersuchungsausschusses im Bundestag
  • Die sofortige Freigabe der NSU-Akten
  • Die sofortige Entwaffnung von Neonazis und Aufdeckung aller rechtsextremen Netzwerke
  • Das Wahlrecht für alle, die hier leben. Demokratie und Partizipation müssen für alle gelten unabhängig von Herkunft und Pass
  • Die Durchsetzung von globalen Menschenrechten


Februar 2021
Der Vorstand des Institutes Solidarische Moderne