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»Es muss um eine tägliche Arbeitszeitverkürzung gehen«

Andrea Ypsilanti spricht in der aktuellen Ausgabe der OXI über Arbeitszeitverkürzung als emanzipatorisches Projekt und eine radikale Transformation

Die Begriffe Transformation und Arbeit klingen ziemlich groß. Als definierte man Arbeit wirklich neu. Ist damit ein neuer Arbeitsbegriff gemeint?

Ich halte die Reduzierung der Erwerbsarbeit und damit eine neue Organisation von Arbeit für eine ebenso grundlegende Voraussetzung der notwendigen umfassenden Transformation wie die Energiewende und die Mobilitätswende. Dazu braucht es neue Arbeitsformen, und zwar in der Produktion, aber auch im Privatbereich.

2021 hat das ISM ein Papier mit der Überschrift »Wir brauchen einen neuen ökologischen und solidarischen Gesellschaftsvertrag« veröffentlicht. Darin wird die direkte Verknüpfung von Arbeit und Gesellschaft betont. Arbeit kann sich demzufolge nur transformieren, wenn sich Gesellschaft transformiert.

In einer gelingenden Transformation müssen sich die Alltagspraxen der Menschen umfassend ändern. Das ist sicher der schwierigste Teil einer Transformation, weil er ja auch verunsichert. Zeitressourcen und Arbeitsorganisation sind dabei zentral. Was verstehen wir unter Arbeit in der Produktion, unter gesellschaftlich notwendiger Arbeit, aber auch eben unter privater Arbeit? Das Herkömmliche aufzubrechen, also auch diese Zweiteilung – hier Arbeit, da Leben –, führt zwangsläufig zu komplett neuen Alltagspraxen. Das braucht Zeit.

Das zweite ist, wir haben immer gesagt, wenn eine Transformation gelingen soll, muss sie demokratisch unterlegt sein. Das heißt, die Leute müssen in der Lage sein, mitzubestimmen, wie Transformation in ihrem Bereich aussehen soll. Da gibt es zum Beispiel die Idee der Transformationsräte, um diese Demokratiearbeit zu gestalten. Auch dafür brauchen die Menschen Zeit. Wenn sie ins Denken kommen wollen über ihre Situation und Möglichkeiten der Veränderung. Das können die meisten nämlich nicht mehr. Sie sind im Job, dann stecken sie im Berufsverkehr, dann kommen sie nach Hause, da sind die Kinder oder zu pflegende Angehörige. Dann bleibt vielleicht noch ein bisschen Zeit für die Reproduktion der Arbeitskraft. Und da ist nichts mehr übrig, um über die Gesamtsituation nachzudenken. Ich bin nicht sicher, ob eine Arbeitszeitverkürzung und die damit gewonnene Zeit unter den gegenwärtigen Bedingungen genutzt werden kann für dieses Nachdenken, vor allem Engagement für gesellschaftliche Veränderung.

Es muss aber zumindest die Chance geben, dies zu reflektieren. Sonst fangen wir an, Transformation von oben nach unten zu organisieren, und dann wird es Widerstand geben, wie wir wissen. So funktioniert das nicht. Menschen müssen eingebunden, gefragt werden. Das ist eine unabdingbare Voraussetzung.

Es gibt den Befund, dass sehr viele Menschen lieber weniger arbeiten oder eine bessere Balance zwischen den verschiedenen Bereichen des Lebens haben wollen. Das ist das eine. Aber richtig ist auch: Wenn Zeit übrig ist in einer kapitalistischen Gesellschaft, die alles zur Ware macht, können wir nicht sagen, wofür diese gewonnene Zeit eigentlich wirklich verwendet wird. Zugespitzt gesagt ist das die Befürchtung, alle Zeit, die erkämpft werden kann, wird für Konsum und Ablenkung verbraucht. Oder ist es ein zu negativer Befund?

Die Gefahr besteht natürlich, und deshalb darf die Diskussion über Art und Weise der Arbeitszeitverkürzung nicht zu sehr vereinfacht werden. Wie soll sie denn stattfinden, und welche Modelle wollen wir? Es gibt Unternehmen, die sagen: Ja, wir können durchaus über eine Vier-Tage-Woche reden, dann wird halt in vier Tagen die Arbeit von vorher fünf Tagen erledigt, und ihr habt einen Tag frei. Das ist natürlich kein emanzipatorisches Projekt. Wenn du Arbeitsverkürzung als emanzipatorisches Projekt definierst, muss es darum gehen, eine tägliche Arbeitszeitverkürzung zu erstreiten

Warum sollen denn die Frauen sagen, wir sind einverstanden mit der Vier-Tage-Woche, wie sie jetzt die IG-Metall erfordert?  Die Kinder brauchen jeden Tag Zuneigung und auch Angehörige pflegst du nicht an einem freien Wochentag. Eine solche Verkürzung der Arbeitszeit, ohne die Frage der Care-Arbeit zu debattieren, ist falsch.

Industriearbeit hat uns gelehrt: Arbeit kann zerstören, ebenso der auf sie gestützte Konsum. Und während der Pandemie haben wir gelernt: Unser Tätigsein ist viel mehr als der Job, die Stelle, die Lohnarbeit. Es geht doch darum, die Arbeitswelt an die Lebenswelten anzupassen, und nicht umgekehrt, wie wir es kennen. Ich kann Flexibilität so definieren, wie es üblich ist: Steh immer und zu jeder Zeit zur Verfügung und stelle die Lohnarbeit über alles andere. Ich kann aber auch sagen, Flexibilität bedeutet, sich an den Bedürfnissen der Arbeitenden zu orientieren und nicht an denen des Profits.

Über allem schwebt die große Systemfrage. Du hast ja trotzdem immer auf der einen Seite die doppelt freie Lohnarbeiterin, die ihre Arbeitskraft verkauft, und auf der anderen Seite jemanden, der als Eigentümer von Produktionsmitteln das Angebot unterbreiten kann, diese Arbeitskraft zu einem bestimmten Preis kaufen. Also ist auch Arbeitszeit in erster Linie eine Machtfrage. Und es stellt sich dann die Frage, ob mit der Arbeitszeit-Debatte gegenwärtig überhaupt die Machtfrage gestellt wird. Oder ob es bei der Aushandlungsfrage bleibt: Gewerkschaften kämpfen für höhere Löhne und weniger Arbeitszeit.

Klar wünsche ich mir, dass wir die Machtfrage stellen. Das ist definitiv kein Automatismus. Wenn sich die IG-Metall jetzt auf diese vier Tage Woche festlegt oder vielleicht auch noch andere Gewerkschaften, dann bin ich sicher, dass es die Akteure, die sich für eine Verkürzung der Vollzeit einsetzen, schon spaltet. Deshalb ist der gesellschaftliche Aushandlungsprozess so wichtig.  Ich definiere trotzdem Transformationsprojekte auch durch kleine Schritte. Man muss diese Schritte darauf prüfen, ob sie die Möglichkeit einer weiteren, größeren Transformation verkleinern oder gar verstellen. Die Gefahr sehe ich bei der Vier-Tage-Woche durchaus. Und deshalb darf man das auch den Gewerkschaften nicht allein überlassen. Wir arbeiten im ISM deshalb gerade an der Vernetzung der Akteure und hoffen, dass die Gewerkschaften dabei sind.

Die ja die Eigentumsfrage nicht stellen.

Stimmt, das tun sie nicht. Dabei hat uns die Pandemie gelehrt und lehren uns die umfassenden Krisen der Gegenwart: Die Gesellschaft braucht lebenswichtige Produktionsmittel in ihrer Hand. Nach Jahrzehnten der Privatisierung von Gesundheit, Wohnraum, Mobilität, öffentlicher Daseinsvorsorge, zentraler Infrastruktur ist das so eklatant deutlich geworden. Dieser Pfad ist gefährlich für Gesellschaften. Eine Wiederaneignung hin zu solidarischem Eigentum ist aus meiner Sicht eine genauso große und notwendige Transformationsaufgabe. Solidarisches Eigentum ermöglicht zudem, ganz anders über Transformation der Arbeit zu diskutieren und eröffnet völlig andere Möglichkeiten, dies in einem demokratischen Prozess auszuhandeln. Solidarisches Eigentum in Größenordnungen kann dazu da sein, die Basis eines guten Lebens zu sichern. Und auf einer solchen Basis lässt sich viel einfacher darüber nachdenken, was Wohlstand jenseits von Konsum ausmacht und ausmachen kann.  

Ist die Zeit für solche Debatten günstig?

Ich glaube, sie ist besser als noch vor zwei, drei Jahren. Wir haben Fachkräftemangel und sind in der Situation, dass Arbeiterinnen und Arbeiter Bedingungen stellen können. Wir sind gerade in einer ganz guten Situation, um Machtfragen zu stellen. Ob wir dann damit den Kapitalismus überwinden, weiß ich nicht, aber wir können diesem System etwas entziehen: Unsere bedingungslos zur Verfügung gestellte Arbeitskraft. Das könnte ein Einstieg sein.

Was paradox daran wirkt, ist, zu sagen, das sei jetzt eine gute Zeit für diese Kämpfe. Wir haben die Diskussion über den Fachkräftemangel, wir haben ein Demografie-Problem, es wird diskutiert, die Lebensarbeitszeit zu verlängern. Und in dieser Situation kommt eine Debatte über Arbeitszeitverkürzung.

Das klingt paradox. Aber es gibt inzwischen Unternehmen, die damit werben, dass sie Verträge mit kürzeren Arbeitszeiten bieten, weil sie dann mehr Bewerbungen bekommen und Stellen besetzen können, die sie vorher nicht besetzen konnten. Frauen, die jetzt Teilzeit arbeiten, würden bei der verkürzten Vollarbeitszeit von 28 Stunden vielleicht sogar auf eine Vollzeitstelle gehen. Dafür bräuchte es noch Rahmenbedingungen wie Kitaplätze und Ganztagsschulen. Da gibt es ja auch einen erheblichen Mangel. Man kann aber nicht über Fachkräftemangel jammern und an der Infrastruktur sparen, die Frauen – aber auch zunehmend Männer – in die Lage versetzen würden, zu arbeiten. Der Mangel an Betreuungs- und Pflegeplätzen ist ja legendär.

Gehen die Meinungen im ISM auseinander? Ihr arbeitet schon länger sehr intensiv an diesem Thema.

Ja, die gehen auseinander. Einige, die aus der Gewerkschaftsbewegung kommen, sagen: Wir brauchen diesen Einstieg in die 4-Tage Woche. Die Arbeiter:innen wollen ihn. Ob sie jetzt wirklich diesen Einstieg mit der Vier-Tage-Woche wollen, da bin ich gar nicht sicher. Davon geht man erst einmal aus. Und dann haben wir natürlich auch jene, die sagen: Das ist alles nicht bezahlbar.  Aber die große Mehrheit in unserem Vorstand ist mit unserem Projekt , emanzipatorische Modelle der Arbeitszeitverkürzung zu diskutieren, einverstanden.

Wir stecken in einer biophysikalische Existenzkrise, die andere als Klimawandel bezeichnen, aber mehr umfasst. Bei Strafe des eigenen Untergangs kann Arbeit nicht mehr frei davon diskutiert werden, was eigentlich gearbeitet beziehungsweise mit der Arbeit produziert wird.

Darüber diskutieren wir. Wir müssen auch vollkommen neu über Wachstum und über Wohlstand sprechen. Wenn Wohlstand dermaßen verknüpft bleibt mit materiellem Wohlstand, haben wir bei der Frage der Arbeitszeitverkürzung natürlich ein Problem. Weil wir dann auch immer über stetiges Wachstum sprechen. Wir wissen aber, dass es Branchen gibt, wo Wachstum zurückgefahren werden muss. Und es gibt natürlich Branchen, in denen Wachstum stattfinden sollte, zum Beispiel im Gesundheitswesen, in der Bildung. Wir müssen diskutieren: Wo wollen wir wachsen, warum wollen wir wachsen, und wo muss Wachstum kritisch betrachtet werden? Wer bestimmt darüber, wo Wachstum stattfindet? Wenn wir uns ehrlich machen, wissen wir, dass das 1,5 Grad Ziel überhaupt nicht mehr eingehalten werden kann. Wir müssen viel radikaler über Transformation reden und sagen, dass eine bestimmte Art von Wachstum nicht mehr geht. Und wir brauchen ein anderes Narrativ für Wohlstand. Zeit für das Leben, für Beziehungen, Kinder, Kultur und Bildung und demokratische Teilhabe.

Erschienen in OXI Ausgabe 7/23.