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Noch nicht einmal demokratischer Schein

Ein Interview mit Astrid Rund über die Aufhebung des Atomausstiegs

Ende August wurde in fast allen Tageszeitungen ein "Energiepolitischer Appell" veröffentlicht. Verfasst und finanziert von den vier deutschen Stromkonzernen, die die 17 deutschen Atomreaktoren betreiben. Unterschrieben von einem illustren Kreis aus den Vorstandsetagen von Großunternehmen, von Ex-Ministern und einem Ex-Fußballprofi - alles Männer. Sie forderten von der Bundesregierung die Aufhebung des sogenannten Konsenses über den Atomausstieg und die Laufzeitverlängerung. Gesagt, getan. Den Appell nahm das Institut Solidarische Moderne (ISM) zum Anlass, den Aufruf "Demokratischer Rechtsstaat oder Atomstaat" zu initiieren - mit inzwischen fast 8.000 Unterschriften. Über Intention des Aufrufs sprach analyse&kritik mit Astrid Rund, Erstunterzeichnerin des Aufrufs und Kuratoriumsmitglied des ISM.

ak: Der Aufruf des ISM zum Konflikt um die Laufzeitverlängerung trägt ganz schön dick auf: "Es geht um nicht weniger als das politische Gestaltungsmandat der Verfassungsorgane und damit um den Bestand des demokratischen Rechtsstaates selbst." Warum geht es um nicht weniger?

Astrid Rund: Bei der Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken wird ganz offensichtlich und unverhohlen dem Interesse und der Lobbypolitik der großen Energiekonzerne entsprochen. Entgegen dem Willen der Mehrheit der Bevölkerung soll der Atomausstieg gekippt werden. Die Bundesregierung will den sogenannten Ausstiegskonsens einseitig nicht einhalten, obwohl die Atomkonzerne durch den Verzicht des Staates auf monetäre Leistungen - wie steuerfreie Rückstellungen, Verzicht auf die Brennelementesteuer, Versicherung - schon mindestens 50 Mrd. Euro kassiert haben.

Dabei entlarvt sich die neoliberale Politik zum wiederholten Mal als Handlanger der Großindustrie und zeigt beispielhaft den Eingriff der kapitalistischen Logik in unsere Grundbedürfnisse und Grundrechte.

Daher geht es bei der Laufzeitverlängerung nicht nur um die Energiefrage, sondern auch darum, ob wir es weiter zulassen, dass Dienstleistungen, die die Grundbedürfnisse und Grundrechte der Bevölkerung abdecken, wie z.B. Elektrizität, Trinkwasser, Gesundheit, der öffentlichen Kontrolle entzogen und von den Interessen großer Konzerne bestimmt und kontrolliert werden statt von den Interessen der Mehrheit der Menschen.

Alle Erstunterzeichnerinnen waren Frauen. Das war ein bewusstes Zeichen. Im Aufruf des ISM heißt es, dass es "für sich spricht", dass der von den Energiekonzernen angestoßene "Energiepolitische Appell" ausschließlich von Männern unterschrieben sei. Warum spricht das für sich?

Das ist eine Frage, die sich auf Grund der Komplexität der Zusammenhänge nur anreißen lässt. Ich war nicht verwundert, dass der "Energiepolitische Appell" ausschließlich von Männern unterzeichnet wurde. Diejenigen in den Vorstandsetagen und Aufsichtsräten, um deren Interessen es geht, sind (fast) ausschließlich Männer, die dort auch als Vertreter des Patriarchats Politik machen. Die angestrebte Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken - allen Risiken, ungelösten Entsorgungsfragen etc. zum Trotz - sowie die Privatisierung der Umwelt und deren Nutzung für den Profit von Konzernen ist Ausdruck des in diesem System immanenten kapitalistischen und patriarchalen Ausbeutungsschemas, das u.a. auf der radikalen Ausbeutung von Natur und natürlichen Ressourcen basiert.

Zu diesen natürlichen Ressourcen gehören in der Logik dieses Systems neben der Umwelt auch Arbeitskraft und Zeit, Körper und Sexualität von Frauen. Die Mehrheit der Frauen weltweit gehört zu den VerliererInnen einer solchen Politik. Darüber hinaus stellen Frauen oft aufgrund der unterschiedlichen sozial konstruierten Geschlechterrollen die Nachhaltigkeit menschlichen Lebens mehr ins Zentrum ihres Handelns.

Wie bereits angedeutet, ist für das ISM die Frage nach einem Ausstieg aus der Atomenergie wesentlich mit der Frage nach Demokratie verbunden. Diese fällt nicht vom Himmel. Der Aufruf spricht jedoch lediglich davon, dass die Demokratie "verteidigt" werden müsse. Geht es nicht um mehr?

Ich teile die Auffassung, dass mehr nötig ist, als das zu verteidigen, was es jetzt an scheinbarer Demokratie gibt. Zur politischen Verwirklichung von Werten wie Freiheit und Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität, Autonomie und Partizipation ist eine lebendige Demokratie unerlässlich. Davon sind wir weit entfernt. Seit Jahrzehnten werden selbst die demokratischen Rechte, die im Grundgesetz festgeschrieben sind, ausgehöhlt und beschnitten. Dabei ist unverkennbar, dass Demokratie nur geduldet wird, solange sie wirtschaftlichen und anderen Machtinteressen nicht im Weg ist.

Daher muss es darum gehen, mehr Demokratie in allen gesellschaftlichen Bereichen zu erstreiten. Dazu ist es sowohl unerlässlich, eine Debatte darum zu führen, wie eine demokratische Gestaltung der Gesellschaft aussehen kann und soll, als auch sich einer fortschreitenden Entdemokratisierung zu widersetzen. Was sich aus meiner Sicht in den letzten Jahren verändert hat, ist, dass oft nicht mal mehr der Versuch unternommen wird, den demokratischen Schein zu wahren. Dies ist auch bei der jetzigen Entscheidung zur Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken so.

Als Bewährungsprobe wird auf die Proteste gegen den Castor im Spätherbst verwiesen. Heißt das, dass wir uns darauf einstellen können, gemeinsam mit Mitgliedern des ISM den Castor zu blockieren?

Ich weiß nicht, wie Mitglieder des ISM an Protesten gegen Atomkraft und gegen die anstehenden Castortransporte teilnehmen werden. Im ISM haben sich Menschen zusammengefunden, die in unterschiedlichen linken Zusammenhängen, sozialen und politische Bewegungen und Parteien aktiv sind - und daher auch verschiedene politischen Betätigungs- und Aktionsformen haben. Es ist keine soziale Bewegung, sondern eher eine Programmwerkstatt. Sehr deutlich spricht der Aufruf aber von der Notwendigkeit, der jetzigen Entwicklung einen demokratischen Widerstand entgegenzusetzen. Daher denke ich, dass sich viele an Protesten, von denen keine Gewalt ausgeht, beteiligen werden.
Interview: Ingo Stützle

Erschienen in: ak - zeitung für linke debatte und praxis, Nr. 553 vom 17.9.2010