Ziviler Ungehorsam ist ein Gebot der Stunde

Ein Zwischenruf zur Kriminalisierung von Klimaprotesten

Lützerath liegt an der Abbruchkante des RWE-Tagebaus Garzweiler und soll für verheerend klimaschädlichen Kohleabbau geräumt werden. Das Dorf ist längst wüst gegangen, denn die Bewohner:innen haben es verlassen müssen. Aber in diesen Tagen kämpfen Klimaaktivist:innen, die den Ort besetzt haben, gegen die Abbaggerung. Tausende sind aus allen Teilen des Landes angereist und wollen nach eigenen Aussagen sechs Wochen lang durchhalten. Die Landesregierung und der Konzern sind jedoch entschlossen, die Proteste zu beenden und den Widerstand zu brechen. Mit vielen Mitteln. Wohlfeile Mahnungen an die Protestierenden, die Lage nicht zu eskalieren, sollen darüber hinwegtäuschen, dass die Eskalation von jenen Verantwortlichen aus Politik und Wirtschaft ausgegangen ist, die noch immer bereit sind, der Kohle Orte, Landschaft, Natur und Zukunft zu opfern. Lützerath ist ein weiteres Beispiel dafür, wie schwer es ziviler Ungehorsam hat, wie schnell er kriminalisiert wird und wie wichtig er ist. Denn wer heute noch Dörfer für Kohle abbaggern lässt, ist aus der Zeit gefallen und verspielt Zukunft. Deshalb sagen wir:

Ziviler Ungehorsam ist ein Gebot der Stunde und braucht Solidarität

Die Letzte Generation versetzt uns in Rage. Sie verstört, denn ihre Aktionen sind verstörend. Sie beschränkt sich nicht auf Demonstrationen, Appelle und offene Briefe. Sie weiß um vorgelebte Projekte einer anderen Wirtschaftsweise und sieht wie wir, dass die in ihren Nischen geduldet und gefördert werden, solange sie das Große und Ganze nicht infrage stellen. Auch dann, wenn sie den Beweis antreten, dass es auch anders geht. Aber wen interessieren schon Beweise?

Die Welt steht in Flammen, ertrinkt, zerbricht an immer größer werdenden Krisen. Die uns ängstigen. Wir schließen die Augen, weil wir zu viel sehen oder weil uns, was wir sehen, überfordert. Die Politik verspricht, zu handeln. Und handelt in Zeitlupe oder macht weiter, wie bisher. Vor 50 Jahren befand sie Umweltschutz als Orchidee und hat sich vierzig Jahre Zeit gelassen, weltweite Umweltzerstörungen und Klimawandel als Tatsachen anzuerkennen. Aber nicht als Aufforderung, alles, wirklich alles zu tun, die Katastrophe abzuwenden. Stattdessen werden seit 50 Jahren Menschen kriminalisiert, die sich aus Sorge um das Wohl lebender künftiger Generationen und bedroht durch exzessive Zerstörung der Umwelt, vor Autos und Castorzüge gesetzt, an Bäume und auf Schienen gekettet haben. Wegsperren, ächten, für verrückt erklären, sind seit 50 Jahren Mittel der Wahl.

Die Letzte Generation speist sich aus Menschen, von denen viele vorher sämtliche der Politik genehmen und von ihr genehmigten Formen des Protestes ausprobiert und mitorganisiert haben. Sie sind demonstrieren gegangen und haben dafür die Schule geschwänzt oder einen Tag Urlaub genommen. Sie haben Plakate gemalt, Aufrufe unterschrieben, Appelle formuliert und for Future diskutiert. Sympathisch, haben viele applaudiert und weitergemacht. Nett, wenn auch ein bisschen kindisch, erklärte die Politik und änderte nichts.

Alles politische Handeln springt gegenwärtig zu kurz

Dann hat die Letzte Generation gesagt: Die ökologische Frage mit ihrer lebensbedrohlichen Dringlichkeit kann nicht mehr auf Wohlfühldemonstrationen und in mahnenden Appellen an die Vernunft der Verantwortlichen verhandelt werden. Denn alles politische Handeln springt gegenwärtig zu kurz.

Die Letzte Generation ist verzweifelt. Ihre Verzweiflung macht sich am Sekundenkleber fest. Sie nährt unseren Zweifel. Daran, dass es schnell genug geht mit dem dringend notwendigen Wandel. Denn das Hyperprojekt Klimawandel überfordert die in Vierjahresrhythmen denkende und handelnde Politik durch seine zeitliche Dimension. Die Letzte Generation sagt: So kann es nicht weitergehen, denn die Geschichte wird sich nicht nach unseren Vorstellungen und zu kurz gedachten Abläufen richten. Sie verweigert die widerspruchslose Anpassung an die Realität, die begründet wird mit möglichen Standortnachteilen und der Trägheit politischer Aushandlungsprozesse.

Die Letzte Generation stört die Gegenwartsgesellschaft, die eine Konsumgesellschaft ist, gewaltig. Sie fordert, die Zukunft in den Blick zu nehmen. Und sagt: Gegen Angst hilft nur Tun. Sie klagt die Gewährung intertemporaler Freiheitsrechte ein und verweigert einer Politik, die Zukunft und künftige Generationen diskontiert, die Gefolgschaft. Denn wer den nachfolgenden Generationen das gleiche Recht auf gutes Leben und intakte Umwelt zuspräche, würde anders handeln.

Demokratie muss mehr sein als ein Reparaturbetrieb

Die Letzte Generation mahnt nicht, sie brüllt: Die Zeit wird knapp, es gibt ausreichend Tumormarker, die uns beweisen, dass wir handeln müssen! Sie will das Leiden daran, was wir heute Fortschritt nennen, nicht den Rechten überlassen. Sie sagt, wir leben in einer Welt, in der die Preise für Sekundenkleber wahrscheinlich bald steigen werden, weil er so viel nachgefragt wird. Es läuft schief, sagt sie. Sie ist alarmistisch, weil Verantwortliche gar keinen Alarm schlagen. Sie ist laut und verlangt, dass Demokratie mehr sein muss als der Reparaturbetrieb für neoliberale Wachstumsträume. Die Letzte Generation ist Moralwächterin und macht für alle, die nichts tun, die Drecksarbeit. Das nervt noch mehr. Ihre Forderungen sind politisch erfüllbar und gesellschaftlich umsetzbar. Ihre Methoden brachial. Kritikwürdig. Auch. Aber kriminell?

Die Frage, welche Mittel recht sind, um Staat und Politik dazu zu bringen, mehr für den Klimaschutz zu tun, wird gegenwärtig diskutiert. Aber noch bevor diese Diskussion ausreichend geführt ist, wird die Letzte Generation kriminalisiert. Damit verlassen die, die das tun, den Boden des Rechtsstaates, der dazu da ist, das staatliche Gewaltmonopol zu kontrollieren. Jene Exekutive also, die ihn gegenwärtig anruft, ihr die Unruhestifter vom Hals, sprich in die Gefängnisse zu schaffen.  So hat sie es schon immer gemacht und jetzt soll es wieder funktionieren. Unverhohlen werden die Rufe nach Anwendung des § 129 Strafgesetzbuch (Bildung einer kriminellen Vereinigung) laut, wird die Letzte Generation mit den „Reichsbürgern“ in eins gesetzt, also mit Leuten, die einen faschistischen Putsch planen.

Ziviler Ungehorsam ist ein Gebot der Gegenwart

Dagegen sprechen wir und solidarisieren uns mit den Aktivist:innen der Letzten Generation, ohne Einverständniserklärung für alle von ihnen angewandten Methoden. Ziviler Ungehorsam ist ein Gebot der Gegenwart. Gehorsam birgt Gefahr. Wer den Rechtsstaat mit Gewaltmonopol gleichsetzt, hat ihn nicht verstanden.

Wer zivilen Ungehorsam für eine Sache kriminalisiert, die einen breiten gesellschaftlichen Konsens findet und deren Dringlichkeit nicht umstritten ist, muss von jenen in die Schranken gewiesen werden, die in Regierungsverantwortung sind. Sie tragen die Verantwortung dafür, Menschen zu schützen, die zu Unrecht stigmatisiert und verunglimpft werden. Weil Demokratie nicht nur heißt, andere zu Wort kommen zu lassen, sondern ebenso beinhaltet, für ein zutiefst demokratisches Ziel handeln zu dürfen.