Crossover

Auszug aus "ABC der Alternativen 2.0"

Crossover – ein Begriff aus der Musiktheorie, der dort die Überkreuzung oder Durchquerung verschiedener Musikgenres bezeichnet – wurde zunächst im Sinne einer Bündnisstrategie auf die politische Praxis übertragen: Sie ging aus den Suchprozessen in der beginnenden Krise des Neoliberalismus Mitte der 1990er Jahre in der BRD hervor. Linke Strömungen in SPD, PDS und den Grünen organisierten über ihre jeweiligen Zeitschriften Diskussionsprozesse und Kongresse, um ein alternatives Projekt, einen »ökologisch-solidarischen New Deal«, zu entwickeln und eine Linksregierung vorzubereiten, wie sie bereits in vielen anderen europäischen Staaten Realität war. Crossover ging also von der Parteilinken aus, verstand sich aber als radikalreformistischer Ansatz, der Parteigrenzen überwinden und ebenso in der gesellschaftlichen Linken verankert werden müsse.

Diese Bündniskonstellation zerbrach in der Folge an den Auseinandersetzungen um die Politik der ersten rot-grünen Bundesregierung 1998-2005, insbesondere an deren Beteiligung am Kosovo-Krieg sowie der »Agenda 2010«-Politik. Seit dem Ende dieser Regierungskoalition gab es immer wieder Versuche, den Prozess erneut zu starten, etwa vermittelt über die Zeitschrift »der Freitag«. Doch der Neustart gestaltete sich schwierig gegenüber einer nach wie vor neoliberalen Politik, »die von zwei der drei beteiligten Parteien selbst betrieben wurde« (Ralf Krämer, der Freitag vom 5.9.2009). Zaghaft bildeten sich die ersten neuen Bündnisse heraus, wie etwa 2009 die »Oslo-Gruppe«, bestehend aus Parlamentarier_innen der drei Parteien.

Es war schließlich die Gründung des Vereins »Institut Solidarische Moderne« (ISM) Anfang 2010, die eine Institutionalisierung des Crossovers hervorbrachte. Die Gründung war eine Reaktion auf den gescheiterten Versuch einer Linksregierung in Hessen und die Erkenntnis der Notwendigkeit einer breiten gesellschaftlichen Verankerung eines »gegenhegemonialen Projekts« zum Neoliberalismus. Daher versteht sich das ISM nicht mehr hauptsächlich als Vorbereitungsprojekt einer Linksregierung, auch wenn diese durchaus als eine Möglichkeit zur Transformation der Machtverhältnisse angesehen wird, sondern als Ort alternativer Wissensproduktion.

Beim Crossover in der heutigen Praxis sind die Beteiligten Mitglieder verschiedener Organisationen: aus Politik, Gewerkschaften, Wissenschaft und der Zivilgesellschaft, sozialen Bewegungen und NGOs. Sie bringen in den gemeinsamen Diskurs einerseits die Sichtweise ihrer jeweiligen Herkunftsorganisationen ein, bringen aber gleichzeitig die Bereitschaft zur kritischen Reflexion des jeweiligen Ansatzes mit. Bei der Herausarbeitung der Differenzen der jeweiligen Akteur_innen und in der gemeinsamen Bearbeitung dieser Differenzen entstehen im Idealfall neue politische Konzepte. Diese stellen nicht lediglich einen Minimalkonsens zwischen den Akteur_innen dar, sondern sollen neues, innovatives und emanzipatorisches Potenzial heben.

Zur Vermeidung eines Minimalkonsenses ist es wichtig, die Kommunikationsmethode zu bestimmen. Dazu braucht es einen moderierten, gleichberechtigten Austausch zwischen den Partner_innen und eine immer wieder erneute Verständigung über das Ziel. Das ISM hat dafür z.B. eine auf ihren Crossover-Ansatz zugeschnittene, partizipative Kommunikationsmethode erarbeitet (»ISM-Code«). Die Praxis kann zeitintensiv sein, beinhaltet aber die Chance zu gegenhegemonialen Konzepten und Praxen. Diese neue Idee, das Konzept oder die Praxis werden in die Herkunftsorganisation zurück vermittelt. Insofern kann diese Praxis eine transzendierende sein.

Crossover kann also zusammenfassend als Versuch gedeutet werden, parlamentarische und außerparlamentarische Bewegungen und Parteien, radikale und weniger radikale Positionen zusammenzubringen, um an Synthesen unterschiedlicher Forderungen zu arbeiten. Dabei darf dieser Prozess nicht als harmonisches Projekt missverstanden werden, sondern im Gegenteil: Die unauflösbare Präsenz institutioneller sowie außer- und antiinstitutioneller Politiken sowie unterschiedlicher Erfahrungen und Perspektiven ist dauerhaft konfliktreich – gerade deswegen sind die Methoden der Erarbeitung von Gemeinsamkeiten und Differenzen zentral. Das Crossover für ein neues linkes Gesellschaftskonzept ist somit ein sozialer Lernprozess kollektiver Konflikterfahrungen, der um das Scheitern der vielfältigen Bündnis-Konstellationen weiß, den stets erneuten Versuch der Sammlung und Verstetigung disparater Traditionen und Bewegungen jedoch für unverzichtbar hält.

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Aus: "ABC der Alternativen 2.0 - Von Alltagskultur bis Zivilgesellschaft", Hrsg. Ulrich Brand / Bettina Lösch / Benjamin Opratko / Stefan Thimmel (Hrsg.), 352 Seiten, EUR 15.00, ISBN 978-3-89965-500-1. Hier das Buch bestellen[1].

Das Buch "ABC der Alternativen 2.0" umfasst 161 Stichworte auf jeweils zwei Seiten – von »Alltagskultur« über »Mosaiklinke« bis »Zivilgesellschaft«. Das Buch enthält auch Beiträge der ISM-Protagonist_innen Elmar Altvater, Ulrich Brand, Michael Brie, Annelie Buntenbach, Sven Giegold, Frigga Haug, Sabine Leidig, Stephan Lessenich, Thomas Seibert und Hans-Jürgen Urban.

"Manche Einträge stellen Alternativen im Sinne von praktischen Gegenmodellen zum Bestehenden vor; andere behandeln strategische Vorschläge, Protest- und Bewegungsformen sozialer Kräfte; wieder andere verweisen auf Traditionslinien und historische Erfahrungen von Kämpfen um Alternativen, die heute noch von Bedeutung sein können; und alle zusammen sind Begriffe im emphatischen Sinne, die alternative Perspektiven auf gesellschaftliche Verhältnisse, andere ›Weltsichten‹ eröffnen", schreiben die Herausgeber.

Links:

  1. http://www.vsa-verlag.de/nc/buecher/detail/artikel/abc-der-alternativen-20/