Jenseits der Blase

Dass einige Menschen resignieren, hat weniger mit einem individuellen Desinteresse zu tun als mit einem strukturellen Problem.

Wollen wir als Linke langfristig erfolgreich sein, müssen wir uns mit denjenigen verbünden, die mit Politik aktuell nichts zu tun haben wollen.

»Die Welt ist schlimm, aber du wirst es auch nicht ändern«, sagte vor ein paar Monaten Mina1[1] zu mir. Mina war damals meine Kollegin in der Pflege von Obdachlosen ohne Krankenversicherung. Es war ein grauer Novembernachmittag, Mina war dabei, mich einzuarbeiten. Uns beschäftige an diesem Tag ein tragischer Fall: Eine aus Osteuropa stammende Patientin, deutlich jünger als ich, mutmaßlich Opfer von Menschenhandel. Auf der Flucht vor einem gewalttätigen Freier war sie aus dem vierten Stock gestürzt und hatte eine schwere Querschnittsverletzung erlitten. Zwar war sie notfallmäßig operiert worden, doch die dringend nötigen Anschlussbehandlungen blieben ihr verwehrt – weil sie nicht versichert war. Als ich Mina vollkommen entsetzt fragte, wie so etwas in Deutschland passieren könne, lächelte sie bloß müde. Zu oft hatte sie erlebt, wie Menschen in den schlimmsten Momenten ihres Lebens einfach allein gelassen wurden. Von Behörden, die sich nicht zuständig fühlen. Von Krankenkassen, die auf den fehlenden Leistungsanspruch verweisen. Von Krankenhäusern, die nichtversicherte Patienten direkt entlassen, wenn keine Lebensgefahr mehr besteht. Daran, dass es für ihre Patient*innen oder gar für sie selbst durch politische Entscheidungen eines Tages besser laufen könnte, glaubte Mina nicht wirklich.

Dass Menschen wie Mina resignieren, hat weniger mit einem individuellen Desinteresse zu tun als mit einem strukturellen Problem. Ich habe in linksliberalen Kreisen oft genug erlebt, wie auf der verzweifelten Suche nach Gründen für die ausbleibende Mobilisierung bei Demo X, Social Media Kampagne Y oder die geringe Beteiligung an Wahl Z irgendjemand sagt: »Den Leuten geht es einfach zu gut.« Ich bin sicher: Den Leuten geht es nicht zu gut, sie glauben nur nicht (mehr) daran, dass sie etwas daran ändern können. 

Aus Erfahrung resigniert

Mina ist Teil einer Gruppe von Menschen, die ich hier als »politisch abgängig« bezeichnen möchte. Menschen, die natürlich eine Meinung zu den Verhältnissen haben, die sie täglich erleben, sich aber nichts oder nur sehr wenig von Politik erhoffen. Einige haben gar nicht erst angefangen, sich politisch einzumischen, andere haben es vielleicht wieder gelassen. Nicht, weil sie das Gefühl haben, dass sich für sie ohnehin nichts ändert. Sondern, weil sie die Erfahrung gemacht haben, dass sich in ihrem Alltag, egal wer regiert, wenig zum Guten verändert. Weil sie erlebt haben, wie politische Probleme zwar mantraartig benannt, aber eben nicht behoben wurden.

Ich möchte hier argumentieren, dass es eine Überlebensfrage für eine Zukunftslinke ist, ob es uns gelingt, die politische Abgängigen (wieder) ins politische Handgemenge (zurück-) zu holen.

Wie groß die Gruppe der politisch Abgängigen ist, kann man wohl nur schätzen: Bei der letzten Bundestagswahl sind mehr als 10 Millionen Wahlberechtigte nicht zur Wahl gegangen. Dabei gilt das Muster: Je ärmer der Stadtteil, desto geringer die Beteiligung. Hinzu kommen rund 10 Millionen Ausländer*innen ohne Wahlrecht, bei denen die Quote derer, die sich aktiv politisch einmischen, nochmal deutlich geringer sein dürfte, auch weil die Hürden für sie noch höher sind. Doch nicht nur Nichtwähler*innen sind frustriert: Mehr als die Hälfte der Menschen in Deutschland sind laut der Leipziger Autoritarismusstudie[2] mit der Funktionsfähigkeit der Demokratie im Alltag unzufrieden. Laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung[3] insbesondere Arbeiter*innen und Menschen aus der Unterschicht: Fast zwei Drittel von ihnen gaben an, mit der Funktionsweise der Demokratie weniger oder überhaupt nicht zufrieden zu sein. Diese Zahlen sind alarmierend.

Im Rahmen dieser Debattenreihe haben wir uns als Institut Solidarische Moderne intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, wie Allianzen innerhalb des verbliebenen »solidarischen Drittels« aussehen könnten (vgl. „Auftakt einer Debatte zum Aufbau einer Zukunftslinken[4]“), wie Parteien und Zivilgesellschaft zueinander stehen und wie Macht- und Regierungsoptionen in Zukunft aussehen könnten (vgl. „Allianz eines sozialen Antifaschismus, kein Kartell der Parteien[5]“).

So richtig es ist, dass wir uns fragen, wie wir im Moment der Schwäche und Verzwergung einigermaßen handlungsfähig bleiben können: Unterbelichtet blieb in unserer Diskussion bisher die Frage, wie wir aus unserer Marginalisierung herauskommen und eine Situation beenden, in der die drei „linken“ Parteien (SPD, Grüne und Linke) im Wesentlichen eine immer kleiner werdende Gruppe irgendwie progressiver Wähler*innen unter sich aufteilen.  Die politisch Abgängigen zu erreichen, ist für uns auch deshalb eine Überlebensfrage, weil sich unter ihnen besonders viele Menschen befinden, die von linker Politik eigentlich profitieren würden: Arbeiter*innen, Arbeitslose, Menschen in strukturschwachen Gegenden, Menschen mit Migrationsgeschichte, etc. Wenn aber ausgerechnet diejenigen, die am meisten unter den aktuellen Verhältnissen leiden, leise bleiben, weil sie keine Hoffnung auf Veränderung haben, wird sich an genau diesen Verhältnissen wenig ändern lassen: Es wird nicht dauerhaft funktionieren, für diese Menschen aus einer Minderheitenposition heraus Stellvertreterpolitik zu machen. Ohne Verankerung bei denjenigen, die die sozialen Probleme in diesem Land aus dem echten Leben und nicht bloß aus Studien kennen, bleiben wir zu klein und im Übrigen auch zu anfällig für die immer wiederkehrenden Kampagnen gegen uns.

Menschen, die nicht regiert werden wollen

Wie kann es aber sein, dass wir als Linke uns in der Vergangenheit so wenig an die gewendet haben, die von uns nichts wissen wollen? Ich fürchte, weil es bequem war. Weil diese Gruppe eben still war und „keinen Ärger“ machte. Ich fürchte, viele von uns haben eigentlich erst angefangen, sich für die Abgehängten und Abgängigen zu interessieren, als sich einige von ihnen doch wieder der Politik zuwendeten und anfingen, AfD zu wählen. Da wurden diese Menschen zu einem »Problem«. Während die einen eher dafür plädieren, AfD-Wähler*innen auszuschließen, zerbrechen sich andere den Kopf darüber, wie man ihnen ein Angebot machen und sie zurückgewinnen kann. Doch wenn der Eindruck entsteht, dass wir uns als Linke für bestimmte Menschen erst interessieren, wenn sie die AfD wählen, dann haben wir schon verloren. Besser, wir hätten uns auch schon für sie interessiert, als sie von Politik nichts wissen wollten. Denn linke Politik kann nicht bedeuten, Menschen davon abzuhalten, die „falschen Parteien“ zu wählen, oder nur um Wählerstimmen zu taktieren. Eine Gesellschaft, die nicht von den Zwängen des Marktes regiert werden will, sondern sich über alle Lebensbereiche demokratisch selbst verwalten will, braucht Menschen, die sich nicht regieren lassen – sondern die sich selbst regieren wollen.


Ich fürchte, wir werden die politisch Abgängigen nur im persönlichen Gespräch und im langwierigen Vertrauensaufbau (zurück-)gewinnen. Ich sage hier „ich fürchte“, weil dieser Weg länger, mühsamer sein wird als jede noch so gute Social-Media-Kampagne, anstrengender als jedes »richtig smarte Wording« und jeder noch so gute Antrag im Parlament. »Vertrauen gewinnen« bedeutet nicht, als Linke einfach wieder gemocht zu werden. Es muss darum gehen, dass die Menschen Vertrauen gewinnen, dass sie etwas verändern können, wenn sie gemeinsam dafür einstehen. Gerne würde ich viele Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit dafür nennen, wie das gelingen könnte. Dass mir nur wenige solcher Vorzeigeprojekte einfallen, mag an mir liegen, ist vielleicht aber auch Teil des Problems. Sicherlich lässt sich auf Erfolge aus der Krankenhausbewegung, der Mieterbewegung sowie zahlreiche Erfahrungen der Selbstorganisierung – von den frühen Solidaritätskassen über die Kinderläden der 68er-Bewegung bis hin zu Organizing-Projekten in Nachbarschaften – verweisen.

Eine Zukunftslinke sollte diese und ähnliche Projekte evaluieren und sich fragen, inwiefern mit ihnen nicht nur die eigene Blase, sondern auch politisch Abgängige erreicht wurden. Und sie sollte den Mut haben, erfolgreiche Projekte zu skalieren. Sie muss außerdem den politischen Überbau schaffen, der überhaupt erst ermöglicht, dass aus kleinen, mitunter unpolitisch anmutenden Selbstwirksamkeitserfahrungen Potential für größere Veränderung entsteht. Dieser politische Überbau erfordert unter anderem ein brauchbares politisches Programm,
eine an der Lebenswelt der „kleinen Leute“ ausgerichtete politischen Ansprache sowie politische Bildungsarbeit, die sich auch an Menschen ohne abgeschlossenes Politikstudium richtet – wie all das im Detail aussehen kann, ist Gegenstand der laufenden Debatte im Institut Solidarische Moderne. In Summe entsteht so eine Strategie, die ermöglicht, dass wir sukzessive immer größere politische Auseinandersetzungen gewinnen können.

Ich bin mir jedenfalls sicher: Was Mina zu erzählen hat, gehört gehört. Ich wünsche mir, dass Mina eines Tages neuen Kolleg*innen sagen kann: »Die Welt ist schlimm. Aber wir können sie ändern.“

 

Svenja Appuhn ist Vorstandsmitglied im Institut für solidarische Moderne. Von 2023-2024 war sie Bundessprecherin der Grünen Jugend, bevor sie gemeinsam mit dem damaligen GJ-Bundesvorstand bei den Grünen austrat und die „Junge Linke“ gründete. Sie studiert Medizin in Hannover und macht im Moment ihr praktisches Jahr im Krankenhaus. Bis vor kurzem arbeitete sie in einer Einrichtung für nicht-krankenversicherte Obdachlose.

1 Name geändert

Links:

  1. https://www.solidarische-moderne.de#sdfootnote1sym
  2. https://www.boell.de/de/leipziger-autoritarismus-studie
  3. https://www.fes.de/studie-vertrauen-in-demokratie
  4. https://www.solidarische-moderne.de/de/article/722.auftakt-einer-debatte-zum-aufbau-einer-zukunftslinken.html
  5. https://www.solidarische-moderne.de/de/article/726.allianz-eines-sozialen-antifaschismus-kein-kartell-der-parteien.html